Es ist verständlich, dass ein Tessiner einen andern Tessiner unterstützt, einen Bundesrat, der von verschiedener Seite kritisiert wird. Doch von einer bekannten und einflussreichen Person wie dem Financier Tito Tettamanti, der Aussenminister Ignazio Cassis lobt, aber den Bundespräsidenten lächerlich macht und seine Missbilligung für die „Kaste der Bürokraten – schweizerische und internationale“ – ausdrückt, wie kürzlich im „Corriere del Ticino“ zu lesen war, dürfte man stichhaltigere Argumente erwarten.
Nicht im Einklang mit dem Bundesratsgremium
Erinnern wir uns an den Besuch von Bundesrat Cassis in Jordanien. Damals sagte er in einem Interview, das in verschiedenen deutschschweizerischen Zeitungen erschienen ist, dass das Uno-Hilfswerk für die palästinensischen Flüchtlinge Teil des Problems sei und nicht dessen Lösung. Das Uno-Hilfswerk (UNRWA, United Nations Relief und Works Agency) behindere die Integration der Palästinenser, die in Jordanien und im Libanon lebten. Solange die Flüchtlinge in den Lagern lebten, hätten sie den Traum, in ihre Heimat zurückkehren zu können. Doch das sei unrealistisch – so Cassis – und mit der Unterstützung der UNRWA werde der Konflikt am Leben erhalten.
Seine Äusserungen stehen nicht im Einklang mit der Politik des Bundesrats, was Bundespräsident Alain Berset Cassis in Erinnerung gerufen habe. Überdies bekräftigte Bundesratssprecher André Simonazzi, die Unterstützung des Uno-Hilfswerkes werde nicht geändert.
Auch der Schweizer Direktor des Uno-Hilfswerks überrascht
Ich staune, dass der Aussenminister seine Kritik äusserte, nachdem er in Jordanien mit dem Schweizer Pierre Krähenbühl – seit fünf Jahren Direktor der UNRWA – ein Berufsbildungszentrum besucht hatte. Dass Krähenbühl, angefragt von Medien, seine Überraschung über die kritischen Worte von Bundesrat Cassis nicht verhehlte, zeigt, dass der Aussenminister es unterlassen hat, das Problem zuvor mit seinem Landsmann und Chef des Uno-Hilfswerks zu besprechen.
Es trifft zu, die gegenwärtige Situation ist unbefriedigend, doch sollte man die Zusammenhänge nicht übersehen. In der Folge des arabisch-israelischen Kriegs vom Sommer 1948 mussten rund 700’000 Palästinenserinnen und Palästinenser ihr Land verlassen. Für diese Flüchtlinge hat die Uno-Generalversammlung 1949 die UNRWA gegründet. Nach einer kurzen Vorbereitungszeit hat das Uno-Hilfswerk seine Tätigkeit im Mai 1950 begonnen. Sie besteht darin, der palästinensischen Bevölkerung, die in der Westbank, in Gaza, in Jordanien, im Libanon und in Syrien vor allem in über 50 Flüchtlingslagern konzentriert ist, ein einigermassen menschenwürdiges Leben zu sichern. Ihre Zahl ist in 68 Jahren auf rund fünf Millionen Menschen angewachsen.
Verzweifelte Lage der Flüchtlinge erträglich gestalten
Es wurden über 600 Schulen und Berufsbildungszentren geschaffen, die nach Angaben der Bundesbehörden in Bern von etwa einer halben Million Jugendlicher besucht werden. Überdies betreibt das Hilfswerk gut 130 Gesundheitszentren, und extrem arme Familien erhalten Hilfe von der Fürsorge. Man kann sagen, dass versucht wird, die verzweifelte Lage der Flüchtlinge erträglich zu gestalten. Die UNRWA wird zum grössten Teil von freiwilligen Beiträgen von Staaten finanziert, die Mitglieder der Uno sind. Der grösste Geldgeber, die USA, haben ihren Beitrag letzthin stark gekürzt; die Schweiz leistet einen jährlichen Beitrag von rund 20 Millionen Franken.
Das Uno-Hilfswerk war als vorübergehende Organisation gedacht. Aber die UNRWA hat ihr Mandat zu erfüllen, bis ein Friedensvertrag zwischen Israel und Palästina abgeschlossen ist. Doch in der verzwickten Situation ist keine Lösung in Sicht. Sofern das Hilfswerk seine Arbeit anders gestalten wollte, müsste die Uno das Mandat ändern. Cassis möchte, dass die palästinensischen Flüchtlinge in die Gesellschaft der verschiedenen Länder integriert würden. Jordanien und der Libanon, kleine Staaten mit einem grossen Anteil Flüchtlinge, waren stets gegen eine solche Integration. Das zeigt sich auch daran, dass die Äusserungen des schweizerischen Aussenministers dort kritisiert wurden.
Lob und Sympathie für Israel
Nicht allein mit Bezug auf das Uno-Hilfswerk hat Cassis eine Haltung vertreten, die nicht mit der Politik des Bundesrats übereinstimmt. Auf Einladung der Gesellschaft Schweiz-Israel hat der Tessiner Bundesrat am 27. Mai in Lugano anlässlich des 70. Jahrestags der Gründung des Staates Israel eine Rede gehalten; anwesend war auch der israelische Botschafter in der Schweiz, Jacob Keidar.
In seinen Worten voller Lob und Sympathie für Israel fehlte eine gewisse Distanz gegenüber Israel, wie es angemessen gewesen wäre für unser Land mit seiner Tradition der guten Dienste, das in Zukunft möglicherweise auch als Vermittler wirken könnte. Der Aussenminister betonte die guten Beziehungen zwischen den zwei Ländern und sagte, sie würden in gleicher Weise denken („Like-mindet Countries“).
Keine Distanz gegenüber Israel
Cassis sagte auch: „Doch nach 70 Jahren Konflikt wäre die Zeit des Friedens längst nötig. Der Nahostkonflikt bleibt nämlich eines der wichtigsten Themen der Weltpolitik. Und das Engagement für einen dauerhaften Frieden bleibt das Rückgrat der Schweizer Nahostpolitik, auch wenn bis heute das Ziel leider nicht erreicht wurde. Die Schweiz denkt immer noch, dass eine Zweistaatenlösung der beste Weg dafür wäre.“
Gleichzeitig verschwieg der Gastredner, dass Israel die Uno-Resolutionen ignoriert und weiterhin Siedlungen auf palästinensischem Territorium baut. Er erwähnte die Gewalt nicht und die vielen Demonstranten, die von israelischen Soldaten in Gaza an der Grenze zu Israel getötet wurden. Das Wort „Palästina“ oder „Palästinenser “ hat er nicht in den Mund genommen. Er sprach als wäre er Nationalrat und Mitglied der Gesellschaft Schweiz-Israel, aber nicht Aussenminister, der eine gewissen Distanz zu den Konfliktparteien Israel und Palästina zu bewahren hat.
Offen und vorurteilslos an der „Pride 2018“ in Lugano
Vielen wird Cassis’ Rede an der „Pride 2018“ in Lugano besser gefallen haben. Als Angehöriger der italienischsprachigen Kultur gab er seiner Freude Ausdruck, dass das Fest der „Pride“, gut bekannt in der deutschen und der französischen Schweiz, auch im Tessin angekommen sei. Als Aussenminister sei er der Förderung der Menschenrechte verpflichtet, die in unserer Verfassung als eine Kernaufgabe aufgeführt sei. Dazu gehöre der Kampf gegen jede Form der Diskriminierung wie jene bezüglich der sexuellen Ausrichtung.
Plötzlich flankierende Massnahmen in Frage gestellt
Der neue Aussenminister scheint Lust zu verspüren, gesetzte Werte und rote Linien des Bundesrats in Frage zu stellen. So hat er dieser Tage in einem Interview bekannt gegeben, dass man über die flankierenden Massnahmen, die auch vom Bundesrat als notwendig erachtet werden, um im Rahmen des Personen-Freizügigkeitsabkommen mit der Europäischen Union (EU) das Lohndumping zu mildern, diskutieren könne.
Das hat bereits heftige Kritik vor allem von den Gewerkschaften und den Sozialdemokraten ausgelöst, aber auch Kopfschütteln bei der CVP und der FDP, mit der ihr Bundesrat seine Konzessionsbereitschaft offensichtlich nicht abgesprochen hatte. Cassis kommt damit der EU entgegen, der im Hinblick auf das Rahmenabkommen zwischen der EU und der Schweiz die flankierenden Massnahmen ein Dorn im Auge sind.