Ein unterhaltsamer Thesenroman? Mehr als das: Mithu Sanyals Buch funkelt von Intelligenz und Witz. Das funktioniert, weil der Plot raffiniert angelegt ist und die Story sich auf dem unsicheren Terrain der Identitäten, der kulturellen Aneignungen, des Rassismus sowie der postkolonialen Hinterlassenschaften und Stereotypen mühelos voran bewegt.
Die deutsche Kulturwissenschaftlerin und Publizistin Mithu Sanyal, Tochter eines indischen Vaters und einer polnischen Mutter, ist in Düsseldorf geboren. Nivedita, die Hauptperson des ebenfalls in Düsseldorf spielenden Romans, ist das mit liebevoller Ironie gezeichnete alter Ego der Autorin. Doch der leichtfüssige Gang der Erzählung täuscht nicht über die Heftigkeit der Konflikte hinweg, um die es geht. Mit den Schockwellen hitziger Auseinandersetzungen in Sozialen Medien hat Mithu Sanyal übrigens bei einem verwandten Thema unliebsame Bekanntschaft gemacht (ihre Shitstorm-Erfahrung ist im Wikipedia-Artikel über sie geschildert).
«Identitti» gehört zum vor allem in der angelsächsischen Literatur heimischen Genre der Campus Novel. Die Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, genauer die dort lehrende indische Kulturwissenschaftlerin Saraswati, ein internationaler Star ihres Faches, steht im Brennpunkt der Handlung. Nivedita verdankt ihr nicht nur das intellektuelle Durchdringen der Identitätsproblematik, sondern auch die persönliche Klärung ihres eigenen transkulturellen Status. Kein Wunder, binden unbedingte Verehrung und menschliche Nähe die junge Nivedita an ihre akademische Lehrerin.
Versuchsanordnung Saraswatigate
Aber dann, bald nach Beginn der Erzählung, geschieht das Ungeheuerliche: Saraswati wird von ihrem älteren Halbbruder Raji als Weisse geoutet – ein krachender Donnerschlag mit langem, durch Öffentlichkeit und Fachwelt rollendem Nachhall. Die Vorzeige-Professorin in Postcolonial Studies heisst eigentlich Sarah Vera Thielmann. Mit fast übermenschlichem Lernfleiss, medizinischen Manipulationen und mentaler Selbststilisierung hat sie sich zur Inderin gemacht. Die Identität der führenden Identitätenforscherin ist ein Fake.
Mit dieser Eröffnung hat Mithu Sanyal eine raffinierte Versuchsanordnung aufgebaut. Der Roman ist ein Laboratorium zur Prüfung all der identätspolitischen, rassentheoretischen und postkolonialen Thesen, die in gewissen akademischen Diskursen und politischen Aktionen den Rang unumstösslicher Gewissheiten erlangt haben. Jenseits des Aufruhrs unter den Studierenden und der öffentlichen Skandalisierung von «Saraswatigate» – studentische Rücktrittsforderungen an die gefallene Professorin, drohendes Disziplinarverfahren an der Uni, Forderung der AfD nach Abschaffung der Postcolonial Studies – kommt es zwischen der Professorin und ihren Adepten zu Auseinandersetzungen, die immer tiefer in die Problematiken hineinführen.
Saraswati, weit entfernt von Schuldbewusstsein und Zerknirschung, geht in die Offensive: Wenn es in kritischen Auffassungen betreffend Gender zur Selbstverständlichkeit geworden ist, von starren Festlegungen Abstand zu nehmen – weshalb sollte dann Race eine unveränderliche Grösse sein? Geschlechtsumwandlung ja, aber Wechsel der kulturellen Identität nein? Wie sollte eine solche Ungleichbehandlung zu rechtfertigen sein?
Mitten in den aktuellen Diskussionen
Saraswatis Aneignung einer falschen Identität ist vor dem Hintergrund einer zur Glaubensgemeinschaft gewordenen akademisch-politischen Bewegung, in der ausgerechnet sie einen hohepriesterlichen Status hat, ein Sakrileg. Die vehemente Ablehnung all dessen, was als Cultural Appropriation (kulturelle Aneignung) gilt, hat dem herrschenden Disput eine Schärfe gegeben, bei der keinerlei Grenzverletzung entlang der rigiden Zuordnungen mehr geduldet werden kann. Diese zunehmende Verbissenheit und Ideologisierung, mit der über Identitäten diskutiert wird, untergräbt der Roman mit seinem listigen und spielerischen, dabei aber passgenau in die aktuellen Diskurse eingefügten Plot.
Mithu Sanyal verstrickt ihre Figuren in immer neue Wendungen dieser Debatte. Was sich eben noch als jener geistige Aufbruch anfühlte, durch den Wissenschaft endlich die ersehnte Verbindung mit politischer Aktion und persönlichem Lebensprogramm einging, entpuppt sich zunehmend als Geflecht voller Widersprüche. Zwar hatten die Studierenden bei Saraswati gelernt, dass Race (was nicht dasselbe wie «Rasse» meint), genau wie auch Gender, sozial konstruiert und dass Identität eine fluide Grösse sei.
Als Theorie hatten die Studis das geschluckt, ohne es ganz zu verstehen. Doch nun sollen sie trotz Empörung über das Täuschungsmanöver der Gewährsperson ihrer Überzeugungen ausgerechnet aus diesem Geschehen etwas lernen. Saraswati mutet ihnen zu, jetzt die Konsequenzen aus dem zuvor nicht Verstandenen zu ziehen und die unaufgeklärten Reste der eigenen Identitätskonzepte zu durchschauen. Das ist augenscheinlich zuviel verlangt. Nivedita schafft es erst genauso wenig wie ihre Studienkolleginnen. Erst am Ende des Romans wird sie eine mühsam errungene Einsicht formulieren:
«Identität ist ein Spektrum. (...) Irgendwo innerhalb dieses Spektrums befand sich der Punkt, an dem Annäherung in Aneignung umschlug, Hilfe in Manipulation, Solidarität in Egoismus. Das war der Punkt, über dem Saraswati in perfekter Balance stand. Einen Fuss auf der konstruktiven, einen auf der destruktiven Seite.»
Lebensgeschichtliche Hintergründe
Nach und nach gibt der Roman seinen Figuren etwas mehr Kontur. Saraswatis Eltern waren lange kinderlos geblieben und adoptierten schliesslich den kleinen Raji aus Indien. Als dann überraschend doch ein eigenes Kind – Sarah Vera – dazukam, entzogen sie dem Adoptivsohn die Liebe. Die verheerende Konstellation wird zum Lebensdrama der beiden Quasi-Halbgeschwister: Raji hat sein Indischsein immer als Grund aller Zurücksetzungen gesehen, während Sarah Vera, deren Liebe vom Bruder abgewiesen wurde, die fixe Idee entwickelte, sie müsste indisch sein, um des Bruders Wohlwollen gewinnen zu können.
Nicht nur bei Saraswati bekommen die Leser Einblick in lebensgeschichtliche Hintergründe eines Kampfs um die «richtige» Identität. Auch über die zwei ihr am nächsten stehenden Studentinnen verrät der Roman mehr. Nivedita – indischer Vater, deutsche Mutter – möchte sich als (deutsche) Inderin verstehen. In ihrem Blog «Identitti» gibt sie ihr Ringen um Identität und akademische Street Credibility mit Witz und Mut vor Publikum zum Besten.
Da hat es ihre Cousine Priti leichter. Sie stammt aus einer rein indischen Einwandererfamilie in Birmingham, ist zum Studium nach Düsseldorf gekommen und lebt in der gleichen WG wie die Cousine. Nivedita hat Pritis Familie einst mehrfach in Birmingham besucht. Auf den Strassen des Einwandererviertels hat sie die Erfahrung gemacht, nicht ganz richtig indisch zu sein. Die beiden jungen Frauen repräsentieren somit unterschiedliche Erfahrungen von kultureller Identität: Priti eine fraglos in der grossen indischen Szene Englands gefestigte, Nivedita eine gespaltene und stets Wunschtraum bleibende. Doch eine Inderin aus Indien ist keine von beiden. Indien bleibt immer das ferne, fremde Herkunftsland.
Furioses Finale
Inzwischen ist der Skandal international hochgekocht. Vor Saraswatis Wohnung haben sich zornige Studierende zusammengerottet. Nivedita gerät zwischen die Fronten, weil ein Radiointerview des WDR, das vor dem Knall mit ihr aufgezeichnet wurde, sie im Nachhinein als Parteigängerin Saraswatis erscheinen lässt. So gerät unvermittelt auch Niveditas Blog, der vorher Kultstatus genoss, ins Zwielicht.
Als Nivedita, von den Protestierenden nicht unbemerkt, ihre Lehrerin zuhause aufsucht, weiss sie selbst nicht, ob sie dort Trost sucht oder Saraswati zur Rede stellen will. Der Besuch dehnt sich schliesslich über Tage aus, auch Priti taucht unvermutet auf und teilt mit der Cousine Saraswatis Gästezimmer. Als auch noch Raji und Saraswatis wunderbar rotzige Freundin auf der Bildfläche erscheinen, bekommt die Konstellation die zum Showdown führende Schärfe.
Niemand reagiert furioser auf Saraswatis Cultural Appropriation als Raji. Sie will aus freien Stücken sein, was er ungefragt ist und sein muss; beider Kämpfe um Identität sind verbunden in der gemeinsamen unglücklichen Familiengeschichte. Raji lässt nicht locker, bis jede Wunde seiner Ausschliessung freigelegt ist. Gleichzeitig erprobt er an den beiden Studentinnen seinen virilen Charme, was bei Priti gut ankommt, bei den übrigen Frauen im Haus etwas weniger.
Amalgam von Fiktion und Faktischem
Mithu Sanyal schreibt ihren Roman in die akademische Welt von Kulturwissenschaften und Postcolonial Studies ein. Die fiktionalen Diskussionen nehmen Bezug auf reale einschlägige Theorien und Publikationen und amalgamieren die Story mit dem Faktischen. Mit einem hübschen Kniff lässt die Autorin zudem eine stattliche Zahl bekannter Namen aus Wissenschaft und Publizistik mit eigenen Äusserungen im Roman auftreten. Mithu Sanyal hat sie um Tweets gebeten, mit denen sie auf einen «Fall Saraswati» reagieren würden. Diese fiktiv-originalen Twitter-Statements sind in die Story einmontiert.
Mit grosser Leichtigkeit bewegt die Autorin die Romanfiguren auf dem Spielbrett ihrer Versuchsanordnung. So nimmt man es denn nicht übel, dass die Gestalten etwas flach gezeichnet sind. Es geht in «Identitti» eben nicht um unverwechselbare Individuen, nicht um das nie ganz auslotbare Wesen realer Menschen. Nivedita, Saraswati, Raji und all die anderen sind Spielfiguren: wortmächtiger, geistesgegenwärtiger, schlagfertiger, aber auch lesbarer als Normalsterbliche.
Eine solche Schreibweise könnte als Erzählstrategie schiefgehen, doch hier funktioniert sie klaglos, zumindest für Leserinnen und Leser, die mit den gegenwärtigen Debatten um Identitäten nicht ganz unvertraut sind. Ist ein solcher Bezug zu der von Mithu Sanyal eingerichteten Versuchsanordnung vorhanden, so garantiert das witzige und gescheite Buch ein immenses intellektuelles Vergnügen, verbunden mit spannenden Einblicken in die schwierige und brisante Thematik.
Mithu Sanyal: Identitti, Roman, Carl Hanser Verlag 2021, 432 S.