Bist du dafür oder dagegen? Für hetero oder homo, weiss oder schwarz, vegan oder nicht-vegan, eine unabhängige oder EU-abhängige Schweiz, regulierten oder deregulierten Markt, Christentum oder Islam, Wissenschaft oder Religion, gendergerechte Sprache oder nicht, Impfen oder Nicht-Impfen? Der Imperativ des demonstrativen Flagge-Zeigens ist pandemisch. Und er ruft eine besondere Sorte von Meinungsmachern auf den Plan. Man kann sie, den Burckhardtschen Schimpfbegriff der«terribles simplificateurs» etwas abändernd, als die schrecklichen Vereindeutiger bezeichnen. Das intellektuelle Grundübel unserer Zeit.
Roland Barthes und das «Neutrum»
Die Negation des Entweder-oder ist das Weder-noch. Man verbindet damit gern die Haltung des Ausweichens, Zauderns, Sich-nicht-Festlegens. Roland Barthes, Autor der berühmten «Mythen des Alltags» zählte das «Weder-noch-Denken» seiner Zeit zu diesen Mythen. «Ninisme» nannte er es. Er meinte damit ein Denken, das sich dank eines imaginären neutralen Standpunkts über den damaligen Konflikten zwischen links und rechts als erhaben wähnt. Aber diese «schöne Moral des neutralen Dritten (führt) zu einer neuen Dichotomie, die ebenso simplifizierend ist wie jene, die man im Namen der Komplexität anprangern wollte.» Statt Nuancen – «Gradienten» – in die Debatte zu bringen, führte die «dritte Partei» scheinneutraler Denker einen parteilichen Kampf gegen Parteilichkeit: «Schon möglich, dass unsere Welt zweigeteilt ist, doch man kann sicher sein, dass über dieser Spaltung kein neutraler Gerichtshof waltet: keine Rettung für die Richter, sie sitzen im gleichen Boot.»
Später differenzierte Barthes diese Kritik. Seine Vorlesung 1978 am College de France widmete er ganz dem Thema des Neutralen. Damit meinte er weder eine über den Debatten schwebende Schiedsrichterposition noch ein schales, austariertes Sowohl-als-auch-Denken. Neutralität war für ihn nicht eine Sache des klaren Positionsbezugs, sondern vielmehr gerade einer Verweigerung solchen Bezugs. Man hält sich nicht aus den Händeln heraus, man mischt sich ein in sie, und durch ein wendiges Lavieren bewegt man sich in Richtung eines Dritten – des «Neutralen». Das ist nun aber auf Anhieb kaum klar: Was ist denn dieses «Neutrale»?
Replik und Meta-Replik
Das Denken in Antagonismen hat einen beeindruckenden philosophischen Stammbaum, von Heraklit über Marx und Nietzsche, Darwin und Freud bis Carl Schmitt. Wie es scheint, entzieht man sich dem Griff dieses Denkens nicht. Und trotzdem: Hat man in einem Gespräch mit jemandem, der uns einen eindeutigen «konfligierenden» Positionsbezug aufdrängt, nicht schon den stillen Impuls verspürt, sich diesem «Übergriff» zu entziehen, indem man auf ein anderes Thema ausweicht, ausdrucksvoll schweigt oder schlicht einen anderen Gesprächspartner sucht. Das gilt nicht gerade als argumentativer Comment, gewiss. Auch sieht man in solchem Ausweichen gewöhnlich eine Schwäche. Aber man kann so zu verstehen geben, dass man das ganze Setting des Gesprächs unterläuft: Ich lasse mich nicht in ein Entweder-oder-Schema zwingen. Man repliziert also nicht in einem Diskurs, man weist den Diskurs selbst zurück – eine Art von Meta-Replik.
Konflikt als Wert
Das heisst natürlich nicht, dass man eine «erhabene» Position bezogen hat. Man bekundet einfach nur die Absicht, eine andere Gesprächsform zu finden, die nicht immer gleich den Agon – Konflikt, Konkurrenz, Konfrontation – fordert. Und damit stösst man auf eine tiefe Problemader. Wie Barthes bemerkt: «Insgesamt scheint mir die abendländische Tradition darin problematisch: nicht dass sie entscheidet, dass (…) die Welt konflikthaft ist, sondern: dass sie aus dem Konflikt eine Natur und einen Wert macht.» Das erinnert an Nietzsche: «Feind sein können, Feind sein – das setzt vielleicht eine starke Natur voraus.» In der Tat. Ständig hören wir, Leben sei ein anhaltender Kampf, eine Kakophonie von entgegengesetzten Meinungen, von denen eine schliesslich triumphieren müsse. Diese Sicht huldigt dem Kämpfer, dem Siegeswilligen, dem Aktivisten. Der «Neutrale» erscheint dagegen als weichlich, indifferent, leblos.
Ich bin nicht der, der ich bin
Ein Aspekt der Neutralität betrifft uns höchstpersönlich. Personsein – das ist ein bleibendes Erbe des Existenzialismus – beruht auf einer Ambiguität: Ich bin nicht der, der ich bin. Sprich: Man kann eine noch so lange Liste von persönlichen Eigenschaften aufstellen, es bleibt immer ein wesentliches Rest-Ich. Ich bin nicht auflistbar. Ich bin weder der noch der noch der noch der … Das ist gerade im Zeitalter einer zusehends potenteren Identifizierungstechnologie eine eminent politische Aussage.
Die zeitgemässen technikadaptierten Konzepte des Selbst oder der Identität beruhen auf dem Ideal des «lesbaren» Individuums, das man zum einen oder anderen Lager schlagen kann; das in die eine oder die andere vorgestanzte Kategorie passt. Gewiss, wir müssen im Beruf, im öffentlichen Alltag, ja, sogar im privaten Zuhause oft so tun, als wären wir solche Individuen, aber durch die Einsicht, dass wir sie nicht sind, nicht sein können, gewinnen wir nicht nur an Authentizität, sondern widersetzen uns auch dem unterschwelligen Zwang zur Identifizierung durch zugriffige Erkennungstechnologien. Hinzu kommt, dass viele, mittlerweile erschöpft durch die zahlreichen «Kulturkriege», unter dem unablässigen Bombardement der Fragen «Wer bist du?», «Wo stehst du?», sich nach «neutralen» Orten des Unausgesprochenen sehnen, wo sie weder dafür noch dagegen sein müssen, wo sie Frauen und Männer ohne Eigenschaften sein können, und das Nichtwissen, wer sie sind, ihnen nicht ständig wie eine Schuld anhängt. Wir verlangen ein Recht auf das Geheimnis – das «Neutrum» –, das wir sind. Der Philosoph Odo Marquard sprach einmal vom «Grundrecht der Ineffabilität».
Das Tertium datur gibt es
Man kann der Neutralität natürlich vorhalten, sie tendiere dazu, im Unentschiedenen, Gleichgültigen, im faulen Frieden stecken zu bleiben. Diese Gefahr zu bedenken, gehört mit zur Neutralität. Neutralität, so könnte man sie auf den Punkt bringen, ist eine Partisanin der Ungewissheit, Mehrdeutigkeit, Widersprüchlichkeit. Sie kann, wie Barthes sagt, «leidenschaftlich», «stark», in «unerhörten Zuständen» auftreten. Das heisst, neutral kann man nur situationsgemäss sein. Und es gibt zweifellos Situationen, die ein binäres Entscheiden verlangen. Dagegen würde Neutral-Sein bedeuten, dass man nicht einfach in der Situation denkt, sondern sie buchstäblich über-denkt. Gebietet sie tatsächlich nur das harte Entweder-oder? Oder findet man gerade durch das hinhaltende Weder-noch eine neue Perspektive? Tatsächlich gibt es, ausserhalb des reinen logischen Kalküls, immer ein Drittes, ein Tertium datur.
Eine Ethik der Geselligkeit
Barthes sah deshalb im Neutralen nicht den Appell zu einem sozial enthaltsamen Passivismus, sondern eine Ethik der Geselligkeit. Das Zusammenleben verlangt von uns oft die Loslösung von binären Gegensätzen. Es gibt ein lebenspraktisches Prinzip, das dieses «neutrale» Loslösen sehr schön ausdrückt: Fünf gerade sei lassen. Wer fünf gerade sein lässt, bekundet ein spezifisches Vermögen: Abstraktion. Der Unterschied zwischen geraden und ungeraden Zahlen lässt sich nämlich aufheben, wenn man sie als ganze Zahlen betrachtet. «Vereinigungsmenge» nennt das die Mengentheorie. Ein ungemein wichtiges Prinzip des Zusammenlebens. Man sieht gelegentlich davon ab, ob man «gerade» oder «ungerade» ist: schwarz oder weiss, Mann oder Frau, Eingesessener oder Zugezogener. Man begegnet Menschen unter einer «neutralen» Oberkategorie. Und diese Kategorie nennt sich persönliches Individuum.
Das Problem besteht nicht darin, dass politische, soziale und kulturelle Fragen stets eine Stellungnahme einfordern – das ist trivial. Neutralität zieht vielmehr gegen den messianistischen Ungeist des «Wer nicht für mich ist, ist gegen mich» ins Feld. Dieser Ungeist begreift geistige Freiheit nicht: Sich zwischen dem Dafür und dem Dawider durchwurschteln können. Vergessen wir schliesslich nicht eine der wirksamsten Waffen der Neutralität: Lachen. Herzhaft und respektlos.