Der anonyme Essay ist nur einen Tag nach Vorberichten über Bob Woodwards Buch „Fear“ erschienen, das aufgrund von Hunderten von Interviews ein verheerendes Bild der Vorgänge im Weissen Haus zeichnet. Donald Trump hatte mit dem Autor, der mit Carl Bernstein in der „Washington Post“ seinerzeit den Watergate-Skandal aufdeckte, trotz wiederholter Anfragen nicht reden mögen.
Trumps Reaktion
Erst nach Drucklegung meldete sich der Präsident Anfang August telefonisch bei Bob Woodward, um ihm seine Sicht der Dinge mitzuteilen. Der Autor versprach ihm, alles im Buch werde stimmen, worauf Trump antwortete, was stimme sei der Umstand, dass keiner je einen besseren Job gemacht habe, als er als Präsident es tue.
Doch sowohl im Fall des Buches als auch des Essays liess Donald Trumps öffentliche Kritik nicht lange auf sich warten. Der Meinungsbeitrag in der „New York Times“ sei feige, sagte der Präsident öffentlich und auf Twitter. Bob Woodwards Werk indes sei „totale Fiktion“ und „total diskreditiert“.
Verantwortlich dafür seien die Medien, die seine Präsidentschaft zerstören wollten. „Sie mögen Donald Trump nicht und ich mag sie nicht, weil sie äusserst unehrenhafte Leute sind“, sagte der Präsident während eines Treffens mit Sheriffs. Und als Reaktion auf den „Times“-Essay twitterte er lediglich „VERRAT?“, um später beizufügen: „Wenn die FEIGE anonyme Person tatsächlich existiert, dann muss die Times ihn/sie aus Gründen der nationalen Sicherheit umgehend an die Regierung ausliefern!“
Feigling oder Held?
Auch Sarah Huckabee Sanders, die Sprecherin des Weissen Hauses, kritisierte in einem Communiqué den anonymen Autor des Meinungsbeitrags: „Das Individuum hinter diesem Beitrag will den rechtskräftig gewählten Präsidenten der Vereinigten Staaten täuschen, statt ihn unterstützen. Er stellt nicht das Land an erste Stelle, sondern stellt sich selbst und sein Ego vor den Willen des amerikanischen Volkes. Der Feigling sollte das einzig Richtige tun und zurücktreten.“
Huckabee Sanders warf der „New York Times“ ferner vor, unverantwortlich gehandelt zu haben: „Wir sind enttäuscht, aber nicht überrascht, dass sich die Zeitung dazu entschlossen hat, diesen pathetischen, leichtsinnigen und egoistischen Meinungsbeitrag zu veröffentlichen. Das ist ein neuer Tiefpunkt für die sogenannte Traditionszeitung und sie sollte sich entschuldigen.“
Worauf Eileen Murphy, eine Sprecherin der „Times“, antwortete: „Wir sind unglaublich stolz darauf, diesen Beitrag publiziert zu haben, der wesentlich zum besseren Verständnis der Vorgänge innerhalb der Regierung beiträgt und verfasst wurde von jemandem, dessen Stellung es ihm erlaubt, solche Einblicke zu haben.“
Im Folgenden die Übersetzung des anonymen Meinungsbeitrags in der „New York Times“:
„Ich arbeite für den Präsidenten, doch gleichgesinnte Kollegen und ich haben gelobt, Teile seiner Politik zu sabotieren und seine schlimmsten Neigungen zu zähmen.
Präsident Trump steht als Präsident vor einer Herausforderung wie nie zuvor ein moderner, hoher Politiker in Amerika ihr begegnet ist.
Nicht nur der Sonderermittler spielt eine grosse Rolle. Oder dass das Land sich uneinig ist, was Mr. Trumps Führung betrifft. Oder selbst dass seine Partei unter Umständen das Repräsentantenhaus an eine Opposition verliert, die ihn um jeden Preis stürzen will.
Das Dilemma – das er nicht ganz versteht – ist der Umstand, dass sich viele der führenden Mitarbeiter seiner eigenen Regierung von innen heraus anstrengen, Teile seines politischen Programms zu sabotieren und seine schlimmsten Neigungen im Zaun zu halten.
Ich muss es wissen. Ich bin einer unter ihnen.
Um es klar zu sagen: Unser Widerstand ist nicht der populäre „Widerstand“ der Linken. Wir wollen, dass diese Regierung Erfolg hat, und wir glauben, dass viele ihrer politischen Entscheide Amerika sicherer und wohlhabender gemacht haben.
Wir glauben aber, dass wir in erster Linie diesem Land verpflichtet sind und dass der Präsident weiterhin in einer Art und Weise agiert, die dem Wohl unserer Republik schadet.
Deshalb haben viele von Trump Ernannte gelobt, alles zu tun, was wir können, um unsere demokratischen Institutionen zu bewahren und Mr. Trumps fehlgeleitete Impulse zu ersticken, bis er sein Amt verlässt.
Die Wurzel des Problems liegt in der Amoralität des Präsidenten. Alle, die unter ihm arbeiten, wissen, dass er sich nicht von irgendwelchen erkennbaren Grundsätzen leiten lässt, die seine Entscheide lenken.
Obwohl er als Republikaner gewählt worden ist, zeigt der Präsident nur eine geringe Vertrautheit mit den Idealen, die Konservative zu vertreten pflegen: freie Geister, freie Märkte und freie Völker. Im besten Fall hat er diese Ideale in einer kontrollierten Umgebung angesprochen. Im schlimmsten Fall hat er sie direkt attackiert.
Zusätzlich zu seinem flächendeckenden Marketing der Vorstellung, dass die Presse „der Feind des Volkes“ sei, tendieren Präsident Trumps Impulse gegen Freihandel und Demokratie.
Verstehen Sie mich nicht falsch: Es gibt auch positive Seiten, welche die fast ständig negative Berichterstattung über die Regierung aufzuzeigen versäumt: eine effiziente Deregulierung, eine historische Steuerreform, ein robusteres Militär und mehr.
Doch diese Erfolge sind trotz – und nicht wegen – des Führungsstils des Präsidenten eingetreten, ein Stil, der impulsiv, konträr, kleinlich und ineffizient ist.
Vom Weissen Haus bis zu den Ministerien und Ämtern: Überall räumen führende Regierungsvertreter ein, dass sie nicht glauben können, was ihr Commander-in-Chief täglich sagt und tut. Die meisten unter ihnen bemühen sich deshalb, ihre Tätigkeit vor seiner Willkür zu isolieren.
Sitzungen mit ihm weichen vom Thema ab und geraten ausser Kontrolle, er wird wiederholt ausfällig und seine Impulsivität resultiert in unausgegorenen, ungenügend informierten und gelegentlich tollkühnen Entscheidungen, die rückgängig gemacht werden müssen.
„Man kann von einer Minute zur nächsten buchstäblich nicht sagen, ob er seine Meinung noch ändert“, hat mir ein hoher Regierungsvertreter unlängst geklagt, nach einem Treffen im Oval Office, anlässlich dessen der Präsident eine wichtige politische Entscheidung zurücknahm, die er nur eine Woche zuvor getroffen hatte.
Das unberechenbare Verhalten wäre noch schlimmer, wenn es im Weissen Haus und in dessen Umfeld nicht unbesungene Helden gäbe. Einige seiner Mitarbeiter sind von den Medien als Bösewichte gezeichnet worden. Im Stillen aber haben sie sich bemüht, schlechte Entscheidungen innerhalb des West Wings (des Weissen Hauses) zu behalten, obwohl ihnen das nicht immer gelungen ist.
Es mag in diesen chaotischen Zeiten ein schwacher Trost sein. Amerikanerinnen und Amerikaner sollten aber wissen, dass noch Erwachsene im Raum sind. Wir wissen genau, was geschieht. Und wir versuchen das Richtige zu tun, selbst wenn Donald Trump das nicht tut.
Das Resultat ist eine zweigeleisige Präsidentschaft.
Betrachten wir die Aussenpolitik: Präsident Trump zeigt öffentlich und privat eine Vorliebe für Autokraten und Diktatoren wie den russischen Präsidenten Wladimir Putin und Nordkoreas Führer Kim Jong-un und zeigt wenig echtes Verständnis für die Bindungen zu alliierten, gleichgesinnten Nationen.
Aufmerksame Beobachter aber haben bemerkt, dass der Rest der Regierung ein anderes Vorgehen bevorzugt, eines, das Länder wie Russland seiner Einmischung wegen brandmarkt und entsprechend bestraft, und das Alliierte rund um die Welt als gleichberechtigt behandelt, statt sie als Rivalen lächerlich zu machen.
Was zum Beispiel Russland betrifft, so wollte der Präsident nicht so viele von Mr. Putins Spionen als Strafe für die Vergiftung eines früheren russischen Spions in Grossbritannien ausweisen. Er beklagte sich während Wochen, wichtige Mitarbeiter würden ihn zu einer weiteren Konfrontation mit Russland zwingen, und er äusserte sich frustriert darüber, dass die Vereinigten Staaten gegen das Land wegen dessen Fehlverhalten weitere Sanktionen ergriffen. Doch das Team, das für die nationale Sicherheit zuständig ist, wusste es besser – solche Massnahmen mussten ergriffen werden, um Moskau zur Rechenschaft zu ziehen.
Das ist nicht, was der sogenannte tiefe Staat („deep state“) macht. Das ist, was ein besonnener Staat macht.
Angesichts der Instabilität, die viele beobachtet haben, gab es schon früh innerhalb des Kabinetts erste leise Stimmen, die davon sprachen, sich auf den 25. Verfassungszusatz zu berufen, der einen komplexen Prozess in Gang setzt, um den Präsidenten seines Amtes zu entheben. Keiner aber wollte eine Verfassungskrise auslösen. So werden wir denn tun, was immer wir können, um die Regierung in die richtige Richtung zu lenken, bis es – auf die eine oder andere Art – vorbei ist.
Unsere grössere Sorge ist nicht, was Mr. Trump der Präsidentschaft angetan hat, sondern was wir ihm uns anzutun erlaubt haben. Wir sind mit ihm zusammen tief gesunken und haben es zugelassen, dass unser öffentlicher Diskurs verroht ist.
Senator McCain hat es in seinem Abschiedsbrief am besten gesagt. Alle Amerikanerinnen und Amerikaner sollten auf seine Worte hören und sich aus der Falle des Stammesdenkens befreien, mit dem hochgesteckten Ziel, uns durch gemeinsame Werte und die Liebe zur Nation zu finden.
Senator McCain ist nicht mehr unter uns. Aber er wird für uns stets ein Vorbild sein – ein Leitstern zur Wiederherstellung der öffentlichen Ehre und zur Wiederaufnahme unseres nationalen Dialogs. Mr. Trump mag solche ehrenwerten Männer fürchten, wir aber sollten sie verehren.
Es gibt innerhalb der Regierung einen stillen Widerstand von Leuten, die sich dazu entschlossen haben, die Nation an erste Stelle zu stellen. Den wirklichen Unterschied aber werden normale Bürgerinnen und Bürger machen, die sich über die Politik erheben, dem politischen Gegner die Hand reichen und alle Etiketten zu Gunsten einer einzigen aufgeben: Amerikanerinnen und Amerikaner.“