Ascona war beinahe menschenleer. Ich las, mit Blick auf den Lago Maggiore, ein Buch, bis gegen vier Uhr nachmittags die Sonne hinter einem Berg verschwand und die Temperatur innert weniger Sekunden derart fiel, dass ich mein Buch zuklappte und mich auf den Heimweg machte.
Einige Wintergäste, die vor dem letzten geöffneten Restaurant noch Kaffee getrunken hatten, sammelten eilends ihre Zeitungen und anderen Habseligkeiten zusammen. Ein kalter Wind war aufgekommen, wie aufgetaucht aus dem Wasser des Sees. Nach wenigen Minuten sah die Promenade aus, als sei seit Jahren kein Mensch mehr hier gewesen.
Ich ging an eingemotteten Booten vorbei, die auf den Wellen schwankten und beim Kontakt mit den Bohlen ächzten. Der Wind trieb ein Plakat vor mir her, das für ein sommerliches Open Air-Konzert warb. Ich fühlte mich angenehm einsam.
Als ich den Landungssteg erreichte, an dessen Kassenhäuschen überall «chiuso» stand, beschleunigte ich meine Schritte, weil mir nun ernsthaft kalt wurde.
In diesem Augenblick klingelte das Telefon in einer gelben Kabine, an der ich gerade vorbeiging. Ich zögerte, blieb schliesslich stehen. Etwas misstrauisch schaute ich mich um. Niemand war zu sehen. Nur einige Möwen flogen flatternd auf.
Das Telefon klingelte weiter. Der Wind, der vom See her kam, drehte plötzlich, als wollte er mich gegen die Kabine schieben. Fröstelnd zog ich an der Tür und betrat das Häuschen. Das Telefon läutete weiter. Dann hörte es auf.
Ich betrachtete es für einige Augenblicke, dann sah ich durch die Glastür hinaus in die Dämmerung. Hier drinnen waren Wind und Wellen kaum noch zu hören. Für einen Moment überlegte ich, ob ich zuhause anrufen sollte. Doch es gibt Stimmungen, in denen man das besser bleiben lässt.
Schon hatte ich die Hand wieder an der Tür, als das Telefon erneut zu läuten begann. Ich schreckte zusammen, nahm mechanisch den Hörer ab, schwieg einen Augenblick und sagte dann unsicher: «Pronto?»
«Oh,» sagte eine Stimme, die nach einer älteren Dame klang, «ich spreche nicht Italienisch. Ist Herr Kranzel da?»
«Tut mir Leid», erwiderte ich. «Nein.»
«Mein Name ist Rufer. Mit wem bin ich denn verbunden?», fragte die Frauenstimme.
«Buchmüller», hörte ich mich sagen.
«Kennen Sie Herrn Kranzel nicht?», fuhr die Stimme fort. «Er hat in Ascona ein Antiquariat, und wir kennen uns seit vielen Jahren. Ich habe ihn immer zu Weihnachten angerufen, weil er so allein ist, und jetzt habe ich anscheinend seine Telefonnummer nicht mehr richtig in Erinnerung. Ich lebe in der Nähe von Hamburg. Könnten Sie nicht Herrn Kranzel aufsuchen und ihm von Sophie Rufer frohe Weihnachten wünschen? Das wäre so nett. Das Antiquariat ist gleich neben der Kirche.»
«Ich will sehen, was ich tun kann», versprach ich unbestimmt. Glücklich verabschiedete sich die Dame und legte auf. Mit dem Hörer in der Hand stand ich noch eine Weile in der Kabine.
In einer Gasse bei der Kirche fand ich tatsächlich einen Laden mit alten Büchern im Schaufenster, die meisten von Hermann Hesse. Bis auf eine Ikea-Lichterkette im Fenster war alles dunkel. Im letzten Licht der Dämmerung versuchte ich einen handgeschriebenen Zettel an der Tür zu entziffern. «November bis Februar geschlossen» stand auf dem Papier, und ganz klein darunter: «Sie können mich anrufen, wenn Sie ein Buch kaufen wollen.» Dazu eine Telefonnummer, bei der die letzten drei Zahlen verwischt waren.
Geistesabwesend fuhr ich mit der Hand über die alte Holztür. Sie gab nach und öffnete sich einen Spalt. Vorsichtig stiess ich sie auf. Eine Glocke bimmelte, und bevor ich mich besinnen konnte, stand ich im Laden. Die Glocke verklang und es wurde still.
Der Schein der Lichterkette im Schaufenster beleuchtete volle Regale und Bücherkisten, die sich überall stapelten. Nur ein kleiner Weg, der zu einer Treppe führte, war frei. Ich stieg einige Stufen hinauf, bis die Dunkelheit mich fast gänzlich umfing.
Nichts war zu hören. Ich beschloss umzukehren. Als ich die Treppe hinuntertappte, streifte ich etwas, das mit lautem Gepolter nach unten fiel, Stufe für Stufe.
Plötzlich ging Licht an. Am unteren Ende der Treppe lag eine grosse Schachtel, rund herum verstreute Bücher. Oben knarrte der Boden, Schritte näherten sich aus den Tiefen des Hauses, und eine Stimme rief unfreundlich: «Wer ist da?»
Die Stimme gehörte einem grossen alten Mann mit schlohweissen Haaren, der langsam die Treppe herunterkam. «Wer hat Ihnen aufgemacht? Wer sind Sie?», herrschte er mich an.
Auf meine Erklärungen und Entschuldigungen hörte er gar nicht. «Niemand kauft mehr alte Bücher», brummte er böse. «Der Laden ist zu, haben Sie nicht gelesen? Aber wenn Sie schon einmal da sind, können Sie sich gerne umschauen.» Seine Miene hatte sich ein klein wenig aufgehellt. «Ich habe geschlafen, der Lärm hat mich geweckt. Habe ich tatsächlich vergessen, die Tür abzuschliessen? Suchen Sie etwas Bestimmtes?»
«Nein, ich interessiere mich einfach für Bücher, aber das ist nicht der Grund, weshalb ich hier bin.» Und bevor er mich wieder unterbrechen konnte, fügte ich schnell hinzu: «Ich soll Ihnen frohe Weihnachtsgrüsse ausrichten von ... äh, Frau Kranzel.»
«Ich heisse Kranzel, und ich habe keine Frau und keine Verwandten, die mir fröhliche Weihnachten wünschen wollen.»
«Nein, entschuldigen Sie, ich meinte von Frau Rufer, die in der Nähe von Hamburg lebt. Sie hat Ihre Telefonnummer vergessen und deshalb bat sie mich, Ihnen die Grüsse zu überbringen.»
«Sophie Rufer?», fragte der Alte und blickte durch mich hindurch. Ein Lächeln erschien auf seinem Gesicht. Er drehte sich um, ging mühsam die Treppe hoch und sagte, ohne sich umzudrehen: «Kommen Sie mit, ich mache uns Tee.»
Ich folgte ihm nach oben, danach durch einen Gang und eine weitere Treppe hoch. Überall standen Bücherregale, Bücher stapelten sich auf dem Boden, und Bücher belegten selbst die Treppenstufen.
Im zweiten Stock öffnete sich ein grosser Raum. Auch hier die Wände bis zur Decke voll mit Büchern, nur der Boden blieb frei. In der Mitte des Zimmers stand ein Tisch mit zwei tiefen alten Sesseln. Er deutete auf einen und forderte mich auf, mich zu setzen.
Für sein Alter bewegte er sich verblüffend schnell, zündete einige Kerzen an, setzte Wasser auf und erklärte mir dabei, dass er im Nebenraum schlafe und hier wohne, ohne richtige Küche, aber das brauche er nicht. Er goss den Tee auf, füllte eine Tasse für mich und sagte: «Hier, trinken Sie, ich will erst etwas erledigen.»
Der alte Mann ging in den Nebenraum. Durch die offene Tür konnte ich einen Blick auf ein Bett und einen Schreibtisch werfen, an den er sich setzte. Er griff zum Telefon, wählte eine Nummer und wartete.
«Sophie, bist du es? Ich wollte dir frohe Weihnachten wünschen. ... Ja, ich weiss, ich trinke gerade einen Tee mit ihm. ... Heisst er? Warte, ich...» Er drehte sich um und winkte mir durch die offene Türe zu: «Sehen Sie sich ruhig um, vielleicht finden Sie was.»
Ich erhob mich und begann mich bei den Regalen umzusehen. Kranzel sprach laut, ich konnte nicht anders, als jedes Wort mitzuhören.
«Mir geht es gut, nur das Geschäft läuft schlecht. Aber wie geht es dir und deinem Hund? Er kommt auch in die Jahre? Aber er führt dich noch immer gut über die Strasse? Braves Tier. Ach, Sophie, ich hatte immer das Gefühl, dass du im Grunde viel besser siehst als alle anderen zusammen. Vielleicht gerade weil du dich nie von Äusserlichkeiten ablenken lassen musstest, weil du hören kannst, was andere nicht hören. Soll ich es dir wieder vorlesen? Wie jedes Jahr? The same procedure as every year? Aber sicher. Warte einen Moment.»
Aus den Augenwinkeln sah ich, wie er auf seinem Schreibtisch herumkramte. Er nahm ein Buch zur Hand und setzte sich eine Brille auf. Ich hörte ihn langsam lesen:
«Meine Seele preist voll Freude den Herrn.
Mein Geist ist voll Jubel über Gott meinen Retter.
Denn er hat gnädig auf seine arme Magd geschaut.
Von nun an preisen alle Geschlechter mich glücklich,
Denn der Mächtige hat an mir Grosses getan.
Sein Name ist heilig.
Er schenkt sein Erbarmen von Geschlecht zu Geschlecht
Allen die ihn fürchten und ehren.
Sein starker Arm vollbringt gewaltige Taten.
Er macht die Pläne der Stolzen zunichte.
Er stürzt die Mächtigen vom Thron
Und bringt die Armen zu Ehren.
Er beschenkt mit seinen Gaben die Hungrigen.
Die Reichen aber schickt er mit leeren Händen fort.
Er nimmt sich gnädig seines Knechtes Israel an,
Denn er denkt an das Erbarmen,
Das er unseren Vätern verheissen hat,
Abraham und seinen Nachkommen, für ewige Zeiten.»
Danach schwieg er eine Weile. Ich räusperte mich, und er wandte sich um. «Haben sie etwas gefunden? ... Moment, Sophie, ich muss bedienen.»
Er stand auf, ich nahm das nächstbeste Buch zur Hand, er wickelte es in ein Papier. Ich griff nach dem Portemonnaie, aber er winkte ab. «Ist geschenkt! Frohe Weihnachten, und danke für Ihren Besuch! Es tut mir leid, dass ich nicht mehr Zeit für Sie habe, aber ich muss noch etwas mit einer alten Freundin besprechen. Auf Wiedersehen, Herr Buchmüller!»
Ich steckte das Buch ein und ging die Treppe hinunter, während ich ihn fröhlich lachen und reden hörte. Die Glocke erklang, als ich die Tür öffnete und in die kalte Dunkelheit hinaustrat. Der Tee und der Lobgesang der Maria hatten mich gewärmt.
Martin Dürr ist als reformierter Pfarrer Co-Leiter des ökumenischen Pfarramts für Industrie und Wirtschaft BS/BL. Mehr noch als am Lago Maggiore ist er in England unterwegs.