Im Jahr 1882, als Ibsen sein Stück „Der Volksfeind“ schrieb, war es visionär. Fast hundert Jahre später, als ich es zum ersten Mal auf der Bühne sah, wirkte es noch immer brandaktuell. Es ist es bis heute geblieben.
Ibsens Drama handelt vom Badearzt Thomas Stockmann, der entdeckt, dass das Wasser des örtlichen Kurbades durch Fäulnisbakterien, die aus einer nahegelegenen Fabrik ins Grundwasser fliessen, verseucht wird. Um Schaden vom Ort und seinen Gästen abzuwehren, beschliesst er, den Skandal im lokalen „Volksboten“ publik zu machen. Durch Intervention des Druckereibesitzers sowie des Stadtvorstehers Peter Stockmann, Thomas’ Bruder, wird dies jedoch verhindert. Eine Bürgerversammlung wird anberaumt, der Arzt prangert in seiner Brandrede Profitgier, Mauschelei und Verantwortungslosigkeit der Regierenden an und wird von einer opportunistischen Bürgerschaft umgehend zum Teufel gejagt. Das Mehrheitsprinzip der Demokratie hat gesiegt, Wahrheit und Recht sind dabei buchstäblich baden gegangen.
Den Auftrag gründlich ausgeführt
Das alles könnte heute noch genau so passieren, haben Stefan Pucher und sein Dramaturg Andreas Karlaganis sich gesagt und beschlossen, das Stück zur Saisoneröffnung auf die Bühne des Schauspielhauses zu bringen. Nur, so ganz scheinen sie dem alten Ibsen doch nicht getraut zu haben. Anders ist nicht zu erklären, weshalb sie es für nötig befanden, den deutschen Science-fiction-Autor und Journalisten Dietmar Dath mit einer Neubearbeitung des Stücks zu beauftragen.
Dieser hat den Auftrag ausgeführt, und zwar gründlich: Statt Fäulnisstoffen dringt jetzt „Fracking-Flüssigkeit ins Badewasser. Aus der Zeitung ist eine Online-Plattform geworden, aus dem Redaktor eine Bloggerin, und der Buchdrucker von anno dazumal ist jetzt stolzer Besitzer eines Softwareunternehmens. Nur das Stadtoberhaupt ist noch immer das Stadtoberhaupt, das den einträglichen Deal mit dem Energie-Multi zum Wohle der Stadt und der eigenen Karriere mit Zähnen und Klauen verteidigt. Dank diesen Aktualisierungen dürfte auch dem Hintersten und Letzten im Publikum klar geworden sein, dass wir uns im 21. und nicht mehr im 19. Jahrhundert befinden. Um jedoch letzte Zweifel auszuräumen, wird eifrig mit Video hantiert und Ibsens Sprache mit Begriffen wie E-Government, Klick-Zahlen, Post-Demokratie oder Social-Choice-Theorie angereichert.
Wo hört das Spiel auf?
Herausgekommen ist ein Abend mit viel Aufwand, aber ohne zusätzlichen Erkenntnisgewinn. Die Mechanismen von heute unterscheiden sich nicht wesentlich von denen des 19. Jahrhunderts. Profitgier und Wählermanipulation gab es damals, und gibt es heute. Und auch, dass die Regierenden zynisch und die Wähler wankelmütig sind, wissen wir schon eine ganze Weile. Es ist deshalb kein Zufall, dass das Geschehen auf der Bühne immer dann am überzeugendsten wirkt, wenn es nahe an Ibsens Vorlage bleibt. Dies gilt insbesondere für die Figur des Arztes, die von Markus Scheumann in ihrer ganzen an Fanatismus grenzenden Hingabe überaus glaubwürdig verkörpert wird. Die Auftritte seines Bruders Peter hingegen wirken papieren, und Robert Hunger-Bühler tut wenig, um den theorielastigen Text zum Leben zu erwecken. Von den übrigen Figuren sticht eigentlich nur noch Tabea Bettins Bloggerin hervor. Sie wirkt keck und frisch und scheint sich als einzige in der virtuellen Welt wirklich zuhause zu fühlen. Sie ist allerdings auch die einzige, deren Rolle etwas Fleisch am Knochen hat. Isabelle Menke als Gattin Katrine, Sofia Elena Borsani als Tochter Petra und Nicolas Rosat als Fact-Checker haben kaum Chancen, sich zu profilieren. Ein paar vergnügliche Momente gewähren uns einzig Matthias Neukirch als wendiger Unternehmer und, wie nicht anders zu erwarten, Siggi Schwientek als schrulliger Schwiegervater.
Wäre da noch der Pausen-Gag zu erwähnen: die Bürgerversammlung ins Theaterfoyer zu verlegen – eine Idee, die Sinn macht. Da fliessen Fiktion und Realität für kurze Zeit ineinander. Das Publikum wird Teil des Theatergeschehens. Meinungen sind gefragt, eine Abstimmung steht an. Wo stehe ich? Wie hätte ich mich entschieden? Doch ehe noch die Demokratie ernst mit mir macht, sitze ich schon wieder auf meinem Platz im Zuschauerraum und frage mich, wo das Spiel aufhört und die Video-Installation beginnt.
Ein vertaner Abend?
Ja, und dann ist da auch noch die amerikanische Sängerin Becky Lee Walters, die mit Ibsen und dem Thema seines Stücks zwar wenig zu tun hat, aber tolle Songs zum Besten gibt und mit ihrer knarrenden, von ferne ein wenig an Tom Waits erinnernden Stimme zu einem der wenigen Höhepunkte der Aufführung beiträgt.
Ein vertaner Abend? Für alle die, die erwartet hatten, wieder einmal einen guten Ibsen auf der Bühne zu sehen, sicher. Wer ihn allerdings zum Anlass nimmt, das Original wieder zu lesen und sich mit den Mechanismen von Demokratie und Ökonomie auseinanderzusetzen, für den könnte er nachträglich doch noch zum Gewinn werden.