2016 verkündete die Weltgesundheitsorganisation, in Nord- und Südamerika seien die Masern besiegt, es gäbe keine Masern mehr auf dem Doppelkontinent. Doch vor wenigen Wochen berichtete Survival International, eine Organisation, die sich für bedrohte Völker in aller Welt einsetzt, dass eine Masernepidemie die Yanomami bedrohe. In Nordbrasilien seien bereits 500 Menschen an Masern erkrankt. „Diese Krankheit kann katastrophale Folgen haben. Wenn nicht sofort medizinische Hilfe geleistet wird, könnten Hunderte sterben, sofern nicht schon etliche der Krankheit erlegen sind.“
Im Grenzgebiet von Brasilien und Venezuela leben schätzungsweise 35’000 Yanomami, deren Lebensraum von der so genannten Zivilisation zunehmend reduziert wird. Zudem sind sie häufig Verfolgungen durch Goldsucher und Holzfäller oder andere Glücksritter ausgesetzt. Tausende Goldgräber arbeiten illegal auf dem Land der Yanomami. Sie schleppen Krankheiten wie Malaria ein, die für die Yanomami tödlich verlaufen können, und verschmutzen die Flüsse und den Wald. Viehzüchter holzen zudem das östliche Randgebiet ihres Landes ab.
Lästige Waldbewohner
Bis 1940 lebten die Yanomami ohne jeglichen Kontakt zur Aussenwelt in der Abgeschiedenheit und im Schutz des Regenwaldes – bis die brasilianische Regierung Vermessungstrupps in die Region entsandte, um die Grenze zu Venezuela abzustecken. Ihnen folgten die Mitarbeiter des regierungsamtlichen Indianerschutzdienstes und Missionare. Doch anstatt sie zu schützen, verbreiteten die Neuankömmlinge Masern, Grippe und ähnliche Zuvilisationskrankheiten, denen die Yanomamis zu Tausenden erlagen. Den Beamten und Missionaren folgten die Soldaten und Bauarbeiter, die in den siebziger Jahren einen Weg entlang der Grenze zu Venezuela asphaltierten. Plötzlich walzten Bulldozer, Bagger, Planierraupen und Tieflader durch das Gebiet der Yanomami. Zwei Dörfer wurden durch Krankheiten, gegen welche die Yanomami nicht immun waren, ausgelöscht.
Seit Beginn der achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts, als 40’000 brasilianische Goldgräber in ihr Land eindrangen, sehen sich die Yanomami einem Massenansturm fremder Eindringlinge und Krankheiten ausgesetzt. Damals erschossen die Goldwäscher und -schürfer lästige Waldbewohner einfach. In nur sieben Jahren starben zwanzig Prozent der Yanomami. Nach einer jahrelangen internationalen Kampagne wurde ihr Lebensgebiet 1992 schliesslich unter dem Namen „Yanomami-Park“ abgegrenzt, die Goldschürfer wurden aus dem Gebiet verwiesen, kehrten aber bald wieder zurück. Die Situation hat sich kaum verändert. In Brasilien weigert sich die Regierung bis heute, die Landrechte indigener Völker anzuerkennen, obwohl sie das „Übereinkommen über eingeborene und in Stämmen lebende Völker in unabhängigen Ländern“ (Indigenous and Tribal Peoples Convention) der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) unterzeichnet und 2002 auch ratifiziert hat.
Tödlicher Bergbau
Zu gross scheint die Versuchung, auch diese Waldgebiete für den Bergbau, die Viehzucht und Besiedlung zu erschliessen. Derzeit debattiert der brasilianische Kongress tatsächlich über einen Gesetzesentwurf, der im grossen Stil Bergbau in indigenen Gebieten erlauben würde. Dieser „industrielle Fortschritt“ könnte für die Yanomami und andere indigene Völker in Brasilien fatale Folgen haben. Die Yanomami haben dabei nichts zu sagen, niemand will ihre Meinung hören. Zudem haben sie kaum Zugang zu unabhängigen Informationen über die Folgen des Bergbaus. Davi Kopenawa, ein Sprecher der Yanomami und Präsident der Yanomami-Organisation Hutukara, warnte vor den Gefahren: „Der Bergbau wird die Natur zerstören. Er wird die Zuläufe und Flüsse zerstören und die Fische und die Umwelt töten – und uns auch. Und er wird uns Krankheiten bringen, die es zuvor in unserem Land nicht gab.“ In Venezuela leiden sie infolge des ungebremsten Einsatzes von Quecksilber an Vergiftungen. (Beim Goldwaschen verbindet sich das Quecksilber in der Wanne mit dem Gold, danach ist das Gold durch Erhitzen des Amalgams leicht zu extrahieren.)
Diese gesundheitsgefährdenden Tätigkeiten werden in den Medien nun auch für den Ausbruch der Epidemie verantwortlich gemacht. Derzeit sei eine neue Welle von Garimpeiros, Goldsuchern, in die Regenwälder eingedrungen, in denen die meisten Yanomamis bislang völlig isoliert von der Aussenwelt lebten. Darum seien auch die Gesundheitsteams nie bis zu ihnen vorgedrungen. Und nun seien die Yanomamis ungeschützt mit den Eindringlingen in Berührung gekommen.
Mangelnde Gesundheitsvorsorge
Venezuelas Opposition schlachtete den Krankheitsausbruch denn auch sofort genüsslich aus. In einer „Gesundheitswarnung“ beschuldigte eine „Venezolanische Gesellschaft für die öffentliche Gesundheit & Netzwerk zur Verteidigung der Epidemiologie unserer Nation“ die Regierung in Caracas, namentlich Präsident Nicolas Maduro und Gesundheitsminister Luis López, „absichtlich die Impfung der Yanomami eingestellt“ zu haben: „Wenn eine Regierung Impfungen für die verletzlichsten Menschen wie die Yanomami vorsätzlich einstellt und sie somit der Gefahr aussetzt, sich mit übertragbaren Krankheiten wie Masern, Diphterie, Kinderlähmung zu infizieren, müssen wir das anprangern und unsere Stimmen gegen diese Verletzung der Menschenrechte erheben.“
Die brasilianische Rergierung bestätigte inzwischen im Bundesstaat Roraima 200 Krankheits- sowie 180 Verdachtsfälle. Im venezolanischen Nachbarstaat Amazonas im Gebiet von Alto Orinoco wurden 263 Fälle registriert, 1368 weitere Personen würden beobachtet. Der Ausbruch von Masern, die unter den Yanomami zum Tod führen können, wurde auch in den brasilianischen Bundesstaaten Rio Grande do Sul, Rondônia und Mato Grosso gemeldet.
Tânia Chaves von der Bundesuniversität von Pará, eine Spezialistin für Infektionskrankheiten, glaubt hingegen, dass venezolanische Flüchtlinge die Krankheit eingeschleppt haben, dass aber auch mangelnde Vorsorge durch Impfungen der erneuten Ausbreitung der Krankheit Vorschub geleistet habe. Nach Angaben der Zeitung „Folha de S. Paulo“ sei der Anteil der Bevölkerung, der geimpft wurde, von hundert Prozent im Jahr 2002 auf heute nur noch 84 Prozent zurückgegangen. „Das ist natürlich keine Idealsituation. Dadurch bilden sich krankheitsanfällige Gruppen, und dort dringt das Virus ein.“