Bernardino Leon, der frühere Uno-Sonderbeauftragte, hatte in 14-monatiger Arbeit ein Dokument ausgearbeitet, das ein Zusammenlegen der beiden in Libyen rivalisierenden Parlamente vorsieht. Diesen Kompromiss hatte er beiden Parteien ultimativ zur Annahme vorgelegt.
Martin Kobler, der neue Sonderbeauftragte der Uno, kämpft nun um die Verwirklichung des Dokuments. Kobler ist ein deutscher Diplomat, der bisher für die Uno im Kongo gewirkt hatte. In der marokanischen Stadt Skhirat, südlich von Rabat, haben einige Parlamentarier beider Seiten den Kompromiss am 17. Dezember unterschrieben.
Zwei Regierungen, zwei Parlamente
In Libyen gibt es sowohl in der Hauptstadt Tripolis als auch in der östlichen Stadt Tobruk je eine Regierung und ein Parlament, die sich bisher feindlich gegenüberstanden. Die Regierung in Tobruk ist international anerkannt, jene in Tripolis nicht.
Noch haben längst nicht alle Parlamentarier der beiden Parlamente grünes Licht für eine Einheitsregierung und ein Einheitsparlament gegeben. Aus Parlamentarierkreisen verlautet, dass zunächst nur „etwa“ 80 der 188 Abgeordneten des Parlaments von Tobruk dem Kompromissvorschlag zugestimmt haben. In Tripolis haben nur „etwa“ 50 der 136 Abgeordneten das Dokument gutgeheissen.
Ohne die Milizenchefs
An den Gesprächen von Skhirat haben auch Persönlichkeiten teilgenommen, die nicht den beiden Parlamenten angehören. Die Uno-Vermittler hatten sie eingeladen, weil sie in Libyen einen Namen und Einfluss haben, und weil die Bevölkerung auf sie hört. Dazu gehören Bürgermeister verschiedener Städte, Würdenträger, Stammeschefs und einflussreiche Geschäftsleute. Nicht eingeladen jedoch wurden die Chefs der bewaffneten Milizen, obwohl sie in Wirklichkeit die mächtigsten Leute im Staate sind. Dank ihren Kämpfern und ihrem Waffenarsenal bestimmen sie letztlich, was geschieht und was nicht.
Doch der Uno-Vermittler hat sich nicht ganz ignoriert. Martin Kobler hat den italienischen General Paolo Serra dazu bestimmt, mit ihnen Verhandlungen aufzunehmen. Serra soll versuchen, die Milizenchefs zu bewegen, dem Kompromiss zuzustimmen.
"Noch zu früh für eine Vereinigung"
Uno-Vermittler Kobler ist nun bemüht, möglichst viele zusätzliche Parlamentarier und Würdenträger für den Kompromissvorschlag zu gewinnen. Doch noch ist längst nicht alles unter Dach und Fach. Es gibt auch Opposition gegen den Plan. Zwei Tage vor dem Treffen in Skhirat trafen sich die Vorsitzenden der beiden Parlamente auf der neutralen Insel Malta. In einer gemeinsamen Erklärung betonten sie, dass es noch zu früh sei, beide Parlamente zu vereinigen. Zudem hätten sie als Parlamentsvorsitzende niemanden ermächtigt, die Einheitserklärung zu unterschreiben. Der Präsident des Parlaments von Tripolis sagte, die Libyer würden selbst einen Weg zur Wiedervereinigung der beiden Regierungen und Parlament finden; sie würden dies nicht auf Befehl des Auslands tun.
Dass die rivalisierenden Parteien selbst einen Weg zur Einigung finden würden, klingt nicht sehr glaubwürdig, vor allem deshalb nicht, weil sich beide Seiten seit August 2014 hart bekämpfen und keinerlei Anzeichen zu einer Versöhnung geben.
Ein Präsident, drei Stellvertreter
Zurzeit ist unklar, wie viele der Parlamentarier der beiden Seiten dem Uno-Plan und wie viele den Weisungen der Parlamentsvorsitzenden folgen. Bisher ist der Uno-Kompromiss nur von Parlamentsminderheiten gutgeheissen worden. Doch jetzt wurde die Frist zur Unterzeichnung um vierzig Tage verlängert. Die Vermittler haben die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass noch viele unterschreiben werden.
Der Kompromissvorschlag sieht vor, dass ein Präsidialrat von neun Personen gebildet werden soll. Seit Oktober ist bekannt, wer als designierter Ministerpräsident vorgesehen ist. Es handelt sich um Fayez Sarraj, ein Abgeordneten des Parlamentes von Tobruk. Ihm sollen drei stellvertretende Ministerpräsidenten zur Seite stehen. Auch ihre Namen stehen bereit fest. Sie sollen zuständig für die östliche, westliche und südliche Region Libyens sein.
Ein Parlament in Tobruk, ein Senat in Tripolis
Der Uno-Plan sieht auch vor, dass während einer Übergangszeit das Parlament von Tobruk weiter besteht. Jenes von Tripolis soll in eine Art Senat mit beratender Funktion umgewandelt werden. Während der Übergangszeit soll eine neue Verfassung ausgearbeitet werden. Anschliessend sollen Neuwahlen stattfinden.
Doch noch besteht alles nur auf dem Papier. Die neue Regierung ist noch nicht gebildet, und wenn sie zustande käme, wäre sie - jedenfalls gegenwärtig - nicht in der Lage, von Tripolis aus zu regieren. Dies deshalb nicht, weil in der Hauptstadt die „Morgenröte von Libyen“ effektiv die Macht besitzt. Dabei handelt es sich um eine Verbindung verschiedener Kampfgruppen. Auch solange nicht eine Mehrheit der Parlamentarier in Tripolis den Kompromiss gutgeheissen haben, wird eine Einheitsregierung in der Hauptstadt nicht eingesetzt werden können.
Forderung nach Aufhebung des Waffenembargos
Unklar ist ebenso, ob die angestrebte Einheitsregierung von Tobruk aus regieren könnte. Dort müsste General Haftar seine Zustimmung geben. Er kommandiert die Armee von Tobruk, die sich selbst die „Libysche Armee“ nennt. Uno-Vermittler Kobler war nach der Unterzeichnung des Kompromisses in Marokko mit General Haftar zusammengetroffen. Dieser erklärte nach dem Treffen, er sei nicht gegen die geplante Einheitsregierung. Allerdings hat er Vorbehalte angemeldet. Wichtig sei, dass die libysche Armee, die er kommandiert, besser ausgerüstet werde. Er forderte deshalb eine Aufhebung des Waffenembargos der Uno gegenüber Libyen.
Nicht nur die Uno, auch die Europäische Union steht hinter dem Einheitsplan. Ihre Aussenbeauftragte und Sicherheitsverantwortliche, Federica Mogherini, hat sich - auch schon im Oktober - mit dem designierten Ministerpräsidenten Fayez Sarraj getroffen und ihm versichert, die EU werde der Einheitsregierung in jeder Hinsicht beistehen, sobald sie gebildet sei.
Westliche Druckmittel
Die Konferenz von Rom, wo sich der Aussenminister Italiens mit jenem der USA und Spitzendiplomaten Frankreichs, Deutschlands, Englands und zwölf anderer Staaten sowie der Uno trafen, war am 14. Dezember eigens zusammengetreten, um der geplanten Einheitsregierung ihrer Unterstützung zu versichern.
Die Teilnehmerstaaten der Römer Konferenz verfügen über beträchtliche Druckmittel gegenüber Libyen. Sie bestimmen nicht nur, ob das Waffenembargo aufgehoben wird, sie können auch Gelder sperren oder umgekehrt staatliche libysche Stellen finanziell unterstützen. In europäischen und amerikanischen Banken lagern noch immer teils konfiszierte ansehnliche nationale libysche Reserven. Europa und die USA könnten zudem die internationalen Erdölgesellschaften, die weiterhin libysches Erdöl fördern (wenn auch weniger als früher), veranlassen, ihre Zahlungen an international anerkannte libysche Staatsstellen zu richten. Zurzeit besteht die aussergewöhnliche Lage, dass die "nationalen" Gelder und Geldanlagen Libyens von der in Tripolis befindlichen Nationalbank verwaltet werden. Diese versieht die beiden im Streit liegenden Regierungen und Parlamente mit den Geldern, die ihre Budgets erfordern.
Westliche Interessen
Es ist unausgesprochen geblieben, geht jedoch aus allen Handlungen und Erklärungen hervor, dass die wichtigsten westlichen Staaten beschlossen haben, sich hinter die geplante Einheitsregierung zu stellen, falls sie zustande kommt. Die beiden wichtigsten Beweggründe für ihr aktives Einschreiten sind einerseits, dass die libysche Küste zum unkontrollierten Sprungbrett für alle afrikanischen und nahöstlichen Auswanderer wurde, die über das Mittelmeer Europa zu erreichen suchen, wobei sich eine Fauna von skrupellosen Menschenschmugglern auf Kosten der Migranten bereichert. Andrerseits macht sich der „Islamische Staat“ zwischen den beiden einander feindlich gegenüberstehenden "Regierungen" Libyens breit, und zwar vor allem in der zentralen Mittelmeerstadt Sirte und ihrer Umgebung. Dieses "Emirat des Kalifates" von Raqqa spricht in seiner Propaganda davon, dass es "Rom" erobern und zerstören wolle. Es ist auch im Begriff, die Pipelines und Erdölförderanlagen südlich von Sirte in Beschlag zu nehmen.
Die westlichen Staaten wollen sich möglichst energisch hinter eine Einheitsregierung stellen. Sie wollen sie offenbar auch mit militärischen Mitteln versorgen, damit sie gegen eine Ausdehnung des „Islamischen Staats“ vorgehen kann.
Gefahren einer Aufspaltung
Der Westen und die Uno gehen dabei ein Risiko ein. Libyen ist ein heterogenes Land, das leicht in verschiedene Einflusszonen zerbrechen könnte. Zurzeit gibt es zwei Haupteinflusszonen. Wenn die neue Einheitsregierung dazu kommt, könnten es drei sein. Oder sogar vier, wenn die beiden Parlamentspräsidenten, die sich in Malta getroffen haben, auch noch ihren Staats- und Regierungsentwurf vorlegen, etwa unter dem Namen eines zweiten, aber von ihnen, "geeinigten" Libyens. Wir hätten dann
- das Libyen von Malta,
- das Libyen von Skhirat (Marokko),
- jenes von Tripolis und
- das - gegenwärtig international anerkannte Libyen von Tobruk.
Dazu könnte auch noch das Libyen des „Islamischen Staats“ kommen. All diese verschiedenen Einflusszonen dürften keine Schwierigkeiten haben, bewaffnete Banden zu finden, die für sie kämpfen.
Gratwanderung
Nur ein geschicktes Zusammenwirken des Westens, der Uno und der geplanten Einheitsregierung könnten ein solches Schreckensszenario verhindern. Man kann nur hoffen, dass die die erhoffte Einheitsregierung, die europäischen Staaten und die internationale Gemeinschaft sich als fähig erweisen werden, die bevorstehende schwierige Gratwanderung in Libyen zu meistern. Wichtig ist dabei, dass die zahllosen bewaffneten Milizen und Gruppen entweder in den Kompromiss eingebunden oder entwaffnet werden. Doch wichtig ist auch, dass die Ordnungs- und Aufbauaufgaben von den Libyern selbst geleistet und vom Ausland nur unterstützt werden.
Denn auch in Libyen sind die Zeiten des Kolonialismus zu Ende. Falls sich das Ausland allzu sehr in die inneren Angelegenheiten des Staats einmischt, würde dies mit Sicherheit auf libyschen Widerstand stossen. Und es würden höchstwahrscheinlich die radikalsten Kräfte innerhalb dieses Widerstands sein, jene von IS, die die Oberhand gewinnen würden.