Dieses wie auch vergangenes Jahr stand in unserem Land Geschichte plötzlich ungewohnt hoch im Kurs. Die einen - die ganz besonders patriotisch Gesinnten - wallfahrten persönlich nach Marignano, die andern begnügen sich mit einer gedanklichen Zeitreise 500 Jahre zurück auf das oberitalienische Schlachtfeld (zuweilen mit Abstechern um weitere 200 Jahre auf jenes von Morgarten), wo man direkte Schlüsse auf die Schweiz von heute zog. Im Jahr zuvor führten die Erkundigungen nicht gar so weit in die Vergangenheit, nur um 100 Jahre, zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs.
Solches Interesse an Geschichte ist lobenswert, denn man kann, wie eine alte Weisheit sagt, aus der Geschichte lernen. Die Ableitungen und Extrapolationen freilich, die unsere Patrioten zum Thema Marignano anstellten, waren gewagt und hatten mehr mit Instrumentalisierung von Geschichte zu tun als mit einer Auseinandersetzung sine ira et studio. Ergiebiger war das Thema des Vorjahres - oder besser gesagt: wäre gewesen. In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg war die europäische Staatenwelt zerfressen von Nationalismus. Die Völker jubelten den Scharfmachern in ihren Regierungen zu, bis 1914 der akkumulierte Hass explodierte und die grossen Katastrophen des 20. Jahrhunderts einleitete. Jene Vorgeschichte zu debattieren wäre lehrreicher gewesen, hätte auch mehr Aktualitätsbezug gehabt als Marignano. Leider wurden diese Aspekte kaum gestreift.
Renationalisierung
So explosiv wie damals ist die Lage heute nicht. Doch ist nicht zu leugnen, dass derzeit nationalistische Gespenster vielerorts wieder unterwegs und auf dem Vormarsch sind. Ein paar Beispiele:
- In Frankreich zieht Marine Le Pen mit ihrem Front National stets breitere Wählerschichten in ihren Bann. Dass sie bei den nächsten Präsidentschaftswahlen in die Endrunde vordringt, ist nicht ausgeschlossen.
- Unter dem Druck seiner eigenen Partei und des Populisten Nigel Farage distanziert sich der britische Premierminister Cameron mehr und mehr von der EU und schürt damit den Traum von Austritt und Alleingang.
- In Deutschland baut sich gegen die „Willkommenskultur“ von Kanzlerin Merkel eine rüde Opposition auf, insbesondere in Gestalt der Pegida. Die Drohungen dieser Extremisten und ihre von Patriotismus triefenden Gesänge auf grossen Plätzen wecken Erinnerungen, die ungemütlich sind.
- In Ungarn marschiert Viktor Orban stramm auf seiner nationalistischen Linie, toleriert die rechtsextreme (und antisemitische) Jobbik-Partei und spielt in der EU, von der man gerne Geld entgegennimmt, systematisch das Enfant terrible.
- In Polen finden am kommenden Wochenende Parlamentswahlen statt, aus denen voraussichtlich die nationalkonservative Partei von Jasroslaw Kaczynski als Siegerin hervorgehen wird. Ihr Programm: Gegen die Deutschen, gegen die EU.
Friedensgarant als Sündenbock
Allen diesen zentrifugalen Kräften sind die gleichen Abwehrreflexe eigen: Man ist gegen die Moderne, gegen das Fremde, man dämonisiert die Europäische Union als Übel der Zeit und sehnt sich nach Heimat in Gestalt eines homogenen, in sich ruhenden Nationalstaats. Und stellt sich leider nie die Frage, wohin die Zersplitterung der EU führen könnte. Nicht zu leugnen ist, dass dieser EU viele Mängel anhaften, und ja: sie stolpert von einer Krise in die andere. Zu sagen ist aber auch, dass, seit es die EU gibt, Europa keinen Krieg mehr heimgesucht hat. Wann in den vergangenen 200 Jahren herrschte auf dem Alten Kontinent eine so lange Friedensperiode? Gewiss, da war der Jugoslawienkrieg in den 1990er Jahren. Aber dieser entzündete sich exakt an den nationalistischen Vergiftungen der einstigen Teilstaaten.
…sitz ich beim Kutscher vorn
Zurück in die Schweiz, zurück zur Anspielung in der Titelzeile, die auf ein altes Lied verweist. Nach ihrem fulminanten Wahlsieg vom Wochenende sitzt die SVP nun sozusagen vorn auf dem Kutschbock des rechten Wagens, der durch Europa rollt. Ihr Programm deckt sich mehr oder weniger mit jenen Kräften, die die EU am liebsten pulverisieren möchten. Bedauerlicherweise macht sie sich keine Gedanken darüber, welche Folgen die Rückkehr zu den alten Verhaltensmustern haben könnte. Schade auch, dass ihre historische Beflissenheit, die sie im Marignano-Gedenkjahr an den Tag legte, dieses Thema scheut.
Umso mehr muss sich die kleinere Wahlsiegerin, die sich FDP.Die Liberalen nennt, ihrer Werte bewusst sein, wenn sie sich anschickt, mit der grossen Wahlsiegerin künftig die Politik zu bestimmen. Ihr freier und liberaler Sinn, den sie für sich in Anspruch nimmt, sollte ihr verbieten, einen Retro-Kurs mitzutragen. Schliesslich war der Freisinn einst die Partei der Offenheit, des Fortschritts, der Moderne.