6. August 1945. Der B29-Bomber „Enola Gay“ der US-Air Force erreicht mit zwei Begleitflugzeugen in geheimer Mission die japanische Stadt Hiroshima. Um 08:15 Uhr Ortszeit wird der Uran-Sprengkörper „Little Boy“ ausgeklinkt und detoniert rund 600 Meter über Grund. Die Druck- und Hitzewelle tötet geschätzte 90’000Menschen unmittelbar, rund 50’000 Verletzungs- und Verstrahlungs-Opfer kommen später dazu. Beim zweiten US-Luftschlag auf Nagasaki am 9. August verlieren wieder Zehntausende ihr Leben.
Diese Ereignisse sind partiell Teil des kollektiven Gedächtnisses geworden. Das „Friedensmuseum“ in Hiroshima empfängt seit 1955 Millionen von Besuchern aus aller Welt. An Jahrestagen zeigen die Medien Bilder von den charakteristischen Atompilzen, Ruinen-Stadtlandschaften und versehrten Menschen. Gedenkveranstaltungen finden statt und Nuklearwaffen-Gegner melden sich zu Wort.
Hiroshima und Nagasaki sind stehende Begriffe mit Symbolcharakter, zunehmend haftet ihnen jedoch etwas Abstraktes an, weil die Zahl der lebenden direkt oder indirekt Betroffenen abnimmt, die Quelle der gefühlsstarken „Oral History“ versiegt. Dem Thema der nuklearen Massenvernichtungswaffen wird zurzeit indessen aufgrund der politischen Wetterlage wieder mehr Aufmerksamkeit zuteil.
Tatort Hiroshima
So macht es Sinn, die Erinnerung an die Anfänge der Nuklearenergie zur zivilen Nutzung und noch mehr auf dem Feld der Waffentechnologie wachzuhalten. Auch mittels des an Bedeutung zunehmenden Mediums „Graphic Novel“. Anfang 2020 ist in der französischen Edition Glénat ein Band erschienen, der nun im Carlsen Verlag auch als deutschsprachige Ausgabe vorliegt: „Die Bombe“, eine detaillierte Chronik zur Entwicklung der Nuklearbombe bis hin zu ihren bislang einzigen Kriegseinsätzen und deren Auswirkungen.
Das 470 Seiten umfassende epische Werk beginnt mit einem Prolog im Zeitraffer. Mit dem Urknall, der Entdeckung des radioaktiven Elements Uran im 18. Jahrhundert, das zum „Ich-Erzähler“ im Off wird, als Inkarnation des unfassbaren Bösen: „Getauft wurde ich im Jahr 1789. Man nannte mich Uran, nach einem Planeten, wie es scheint, der soeben entdeckt worden war.“
Graphic Novels sind variantenreich bilddominant. In „Die Bombe“ ist das erste Tableau schwarz und zeigt zwei programmatische Sprechblasen-Sätze: „Am Anfang war das Nichts.“ Und: „Dieses Nichts enthielt bereits alles.“ Die Decodierung dieser Worte beginnt mit einem Zeitsprung ins Berlin von 1933, nach der Machtergreifung Adolf Hitlers. An der Friedrich-Wilhelms-Universität fasst der ungarisch-deutsche Physiker und Molekularbiologe jüdischer Herkunft, Professor Léo Szilárd, den Entschluss, aus Furcht vor dem Nationalsozialismus zu emigrieren. Sein Weg führt ihn in die USA. Dort wird er – wie im Buch – zu einem Hauptprotagonisten.
Wettlauf um die nukleare Superwaffe
„Die Bombe“ steht modellhaft für eine etwas andere, noch ungewohnte Art der Historiographie. Das Werk verbindet eine Vielzahl von Illustrationen mit Text-Modulen, die meistens in Dialog-Form episodisch vom Wettlauf um die Herstellung einer Nuklearbombe der im Zweiten Weltkrieg involvierten Nationen Deutschland, USA, England, Japan oder Russland berichten.
Erzählt wird von Wissenschaftlern und ihrer Forschung, aber auch von der handfesten Suche, ja der Jagd nach Stoffen, ohne die aus Laborplänen keine Realität hätte werden können. Erzählstränge führen in Uranlager im westböhmischen St. Joachimsthal oder in Uranminen in der Provinz Katanga im belgischen Kongo. Zudem erfährt man von den britischen Sabotage-Aktionen ab 1942 gegen Produktionsstätten von Deuteriumoxid (auch als „Schweres Wasser“ bezeichnet) in Norwegen, das von der deutschen Wehrmacht besetzt ist.
Wichtigster Schauplatz aber ist die hochgeheime nationale Forschungsstation in Los Alamos im US-Bundesstaat New Mexico. Dort, wo nach dem Kriegseintritt der USA 1941 im Rahmen des legendären „Manhattan Project“ die Bomben gebaut wurden, die im August 1945 zum Einsatz kamen. Und wo kurz vorher schändliche medizinische Plutoniumversuche an Menschen durchgeführt wurden – ohne deren Wissen und Einverständnis.
Forscher zwischen Optimismus und Zweifel
In „Die Bombe“ treten natürlich historische Persönlichkeiten von Rang aus den Kulissen. Wie der Sowjet-Diktator Josef Stalin mit seinem Aussenminister W. M. Molotow oder der britische Premierminister Winston Churchill. Und selbstverständlich US-Präsident Franklin D. Roosevelt. Das krankheitsbedingte Ableben des Staatsoberhaupts am 12. April 1945 (während der für US-Präsidenten ungewöhnlichen 4. Amtszeit) hievte den bisherigen Vizepräsidenten Harry S. Truman ins Amt. Er wurde an Roosevelts Todestag vereidigt und erhielt offiziell erst dann Kenntnis von den zeitnah anberaumten A-Bomben-Einsatzplänen.
Es sind aber nicht diese Galionsfiguren, die in „Die Bombe“ im Fokus stehen, sondern Grössen aus Wirtschaft und Finanz, hohe Militärs und natürlich die mit der Kernenergieforschung befassten Fachleute. Fussnotenartig auf deutscher Seite etwa ein Werner Heisenberg oder ein Carl Friedrich von Weizsäcker. Mehr Spielraum bekommen Experten, die ihr Arbeitsfeld in die USA verlegten. Wie der erwähnte Professor Léo Szilárd (er gilt als Entdecker der nuklearen Kettenreaktion und war ein Vertrauter von Albert Einstein). Oder Enrico Fermi, der seine Heimat Italien wegen des Mussolini-Faschismus verliess, massgeblich an der Entdeckung der Kernreaktionen beteiligt war und 1938 den Nobelpreis für Physik erhielt. Und selbstverständlich der Amerikaner deutsch-jüdischer Abstammung, Julius Robert Oppenheimer, der in der entscheidenden Bomben-Realisierungsphase ab 1942 als Direktor des „Manhattan Project“ in Los Alamos waltete.
Fiktive Human-Touch-Szenen
Im Buch geht es über die beruflichen Visionen, Leistungen und Bemühungen dieser und anderer Forscher hinaus auch um deren moralisch-ethische Befindlichkeit. Einzelne anfängliche Befürworter der US-Nuklearrüstung äusserten bereits nach ersten Tests ihre Bedenken und warnten (vergeblich) vor den unkalkulierbaren Schrecknissen bei einem Ernsteinsatz der Bomben. Nach den Horrorszenarien in Hiroshima und Nagasaki vergrösserte sich die Zahl der von Schuldgefühlen gebeutelten Skeptiker, von denen einige später zu engagierten Atomwaffengegnern und Friedenskämpfern wurden. Mit dem Risiko, in der Hexenjagd der antikommunistischen McCarthy-Ära während des Kalten Krieges als Landesverräter denunziert zu werden. So, wie es Robert Julius Oppenheimer widerfahren ist, der als „Vater der US-Atombombe“ gilt.
Eine Graphic Novel kann schon genrebedingt kein auf Analysen und Thesen zulaufendes Geschichtswerk im klassischen Sinne sein. Aber eine solide fundierte, dokumentarisch abgestützte populärliterarische Publikation mit Human-Touch-Szenen. So wie es in „Die Bombe“ der Fall ist: Ohne sentimentales Pathos werden einige fiktive Charaktere in die Handlung eingewoben, die stellvertretend ans Heer von Opfern (meistens Zivilpersonen) erinnern. Wie der Mechaniker Morimoto aus Hiroshima, ein Witwer mit zwei Söhnen. Der jüngere ist schulpflichtig, der ältere dient als Pilot in der kaiserlich-japanischen Luftwaffe. Das weckt den Vaterstolz, schürt angesichts des nahenden, ungewissen Ausgangs des Pazifikkriegs aber zusehends Morimotos Sorgen um die Zukunft der Kinder. So erfährt man zumindest ansatzweise etwas vom Alltagsleben in Hiroshima, abseits von den Ränkespielen in politisch-diplomatischen Zirkeln, in den Laboratorien, den militärischen Kommandozentralen.
„Die Bombe“ wirft auch Fragen auf, die bis heute kontrovers diskutiert werden, wie: Was war die Motivation für die Bombenschläge zu einem Zeitpunkt, wo der 2. Weltkrieg in Europa vorbei war, das kaiserliche Japan kaum mehr in der Lage, im Pazifikkrieg die Niederlage zu verhindern? Und was ist vom Vorwurf zu halten, die USA hätten quasi die letzte Chance nutzen wollen, um ihre Superwaffe im Kriegseinsatz zu testen? Und damit präventiv auch zu demonstrieren, dass man dem zum Feindbild Nummer Eins deklarierten Sowjetkommunismus mit allen Mitteln entgegenzutreten gedenke? Was bedeuten würde, dass die Atomangriffe auf Japan Genozide sind.
Der Schattenmann und ein Filmjuwel
Fünf Jahre lang hat ein illustres Autorentrio an „Die Bombe“ gearbeitet. Als Szenarist der Belgier Alcante (*1970), der als Elfjähriger besuchshalber mit seiner Familie nach Japan in die Heimat von Freunden reiste und in der Gedenkstätte in Hiroshima ein Exponat sah, das ihm nie mehr aus dem Sinn ging: Die in Stein eingebrannten Umrisse eines Mannes, der auf einer Treppe sitzend am 6. August 1945 vom Feuersturm überrascht wurde und verdampfte. Dieser Sinneseindruck brachte Alcante dazu, als Jugendlicher eine Kollektion von Hiroshima-Dokumenten zusammenzutragen. Und nach vielen Jahren das Buchprojekt „Die Bombe“ mit zu initiieren.
Zweiter Szenarist ist der US-Amerikaner Laurent-Frédéric Bollée (*1967), der über fünfzig Comic-Alben in europäischen Verlagen veröffentlichte und mit der Graphic Novel „Terra Australis“ (es geht um die Entstehung des modernen Australiens) Aufsehen erregte. Auch für ihn war die Schattensilhouette ein Leitmotiv – wie auch der Filmklassiker „Hiroshima, mon Amour“ (1959), entstanden unter der Regie von Alain Resnais nach einem Drehbuch von Marguerite Duras. Für Bollée „eine unübertreffliche Dokumentation über die geschundene Stadt wie auch als eine zeitlose Fiktion über die Erinnerung, die Zeit und das Vergessen“.
„Die Bombe“ verlangt einem als Leser einiges an Konzentration ab. Die Fülle an historischen Informationen ist trotz Verdichtungen beachtlich. Und der Seriosität geschuldet ist es unabdingbar, die hochkomplexe Materie der Kernphysik – wenigstens rudimentär – verlässlich fundiert zu vermitteln.
Schwarzweisse „Metrik einer musikalischen Partitur“
Die Bedeutung von Graphic Novels nimmt zu, wobei neben der Themenwahl die Exzellenz der Illustration ein elementares Qualitätskriterium ist. In „Die Bombe“ ist dafür der franko-kanadische Künstler Denis Rodier (*1963) verantwortlich, der für renommierte Comicverlage wie „Marvel“ und „DC Comics“ arbeitete, kreativ an der Kultserie „Superman“ und speziell am preisgekrönten „Death of Superman“-Zyklus beteiligt war.
Die Graphic Novel „Die Bombe“ ist inhaltlich und umfangmässig kein Comicband, aber artverwandt. Stilistisch stellt das Werk eine (noch) ungewohnte Mischung aus klassischem Comic franko-belgischer Provenienz und japanischem Manga dar. Mehr zu den spezifischen Eigenheiten der Graphic Novel mit Denis Rodiers Worten: „Hier findet die Inszenierung ihren Ausdruck ohne die durch einen weit weniger imposanten Umfang erzwungene Komprimierung (…). Auch eröffnet dieses Format dem Seitenaufbau mehr Räume, insofern der Rhythmus der einzelnen Bilder einer Szene Betonung verleiht, ähnlich der Metrik einer musikalischen Partitur. (…) Und schliesslich gibt es da dieses Schwarzweiss, das es dem Zeichner unmöglich macht, sich hinter einer Kolorierung zu verstecken.“
Rodier ist ein Meister der dramaturgischen Bildchoreografie, wechselt raffiniert zwischen Formaten, illustriert bis ins verstörende Detail hinein, spiegelt Handlungsabläufe aus diversen Perspektiven. Nach wenigen Seiten Lektüre entsteht dabei eine Sogwirkung, als würde sich das Storyboard eines Films in Bewegung setzen. Bar jeder Effekthascherei, weil Rodier sich der ethischen Dimension des Stoffes bewusst ist. Zu überprüfen nicht nur dort, wo er virtuos, mit Furor und doch verhalten die Hiroshima-Bombe mit ihren desaströsen Auswirkungen verbildlicht.
Fragile Welt-Sicherheitsarchitektur 2020
Die Graphic Novel „Die Bombe“ blendet formal und inhaltlich überraschend zurück in eines der dunkelsten Kapitel der Weltgeschichte und sie fördert dabei eine zeitlos-drängende Grundfrage ans Licht: Wie geht man in der Globalisierung mit den technologischen, ideologischen, ökologischen und ökonomischen Geistern um, die über Jahrzehnte hinweg aus Fortschrittsgläubigkeit und Raffgier heraus gerufen wurden und die man je länger je weniger los wird?
In den 1930er-Jahren bis hin zum Ende des Zweiten Weltkriegs 1945 waren es geniale wissenschaftliche Tüftler, die von der Nuklearenergie begeistert waren. Und die in ihr schlummernde zerstörerische Kraft theoretisch zwar erahnten, dem pervertierten politisch-militärischen und nationalistischen Missbrauch aber wenig Einhalt gebieten konnten – oder wollten.
Die Fanale des Grauens in Hiroshima und Nagasaki zeigten nach dem Zweiten Weltkrieg nur beschränkt abschreckende Wirkung. Die Aufteilung in West- und Ostblock im Kalten Krieg beförderte den Rüstungswahnsinn. Also pendelt das Damoklesschwert vom nuklearen Super-Gau weiter über dem Planeten Erde, dessen Sicherheitsarchitektur durch den galoppierenden, nicht mehr zu leugnenden Klimawandel und dessen gravierende Folgen noch fragiler geworden ist. Jetzt ist es weniger Option als Pflicht, darüber verstärkt nachzudenken. Als Inspirationsquelle dazu ist die Graphic Novel „Die Bombe“ keine falsche Wahl.
Alcante, Laurent-Frederic Bollé: Die Bombe. Hamburg: Carlsen Verlag, 2020. 472 Seiten
Alle Bilder: ©Carlsen Verlag GmbH, Hamburg 2020