Auf den ersten Blick erscheint die Position des französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron gefährdet. Seine Beliebtheitswerte sind tief, die Zustimmung der Franzosen für die «Gelbwesten» hoch. Das ist jene schwer kategorisierbare Menge von Protestierenden, die sich untereinander und in der Öffentlichkeit als apolitische Normalbürger mit gelben Warnwesten definieren. Sie wollen damit warnen vor der Aufkündigung ihres «contrat social» einer Gesellschaft gegenüber, die sie als ungerecht und als in der Person von Macron verkörpert empfinden. Wer sind die Warner, wie gerechtfertigt sind diese Warnungen und wie werden sie sich politisch auswirken?
Zahlen
Am vorletzten Wochenende sind rund 300’000 Protestierende auf den Strassen Frankreichs marschiert, darunter 30’000 in Paris. Am vergangenen Wochenende waren es noch rund 100’000, davon knapp 20’000 in Paris. Die Zahl der «Blockaden» – an Autobahnzahlstellen, bei Einfahrten in Supermärkte, vor grossen Tankstellen etc.– nahm von ein paar Hundert auf 20 ab. In ganz Frankreich. Eine wirkliche Volksbewegung, zumindest im protest-, streik-, und widerspruchsfrohen Frankreich, sieht anders aus. Zudem dienten die Proteste in Paris, speziell auf der «schönsten Einkaufsmeile der Welt», den Champs Élysées, einer kleineren Gruppe von «casseurs» als weithin sichtbare Bühne für Gewalt und Zerstörung.
Was aber keineswegs typisch war für die Hauptstadt. Nicht nur im 7., 8. und 16. Arrondissement, wo die «haute bourgoisie» zu Hause ist, zuckten die Pariser angesichts der Gelbwesten mit den Schultern, wenn sie sich nicht über Verkehrsbehinderungen aufregten. In einer Umfrage anonym und reflexmässig Mitgefühl zum Ausdruck zu bringen ist eines, sich für eine Sache, die offensichtlich nicht unter den Füssen brennt, aktiv einzusetzen, etwas ganz anderes.
Gegensatz Stadt–Land
Auffällig war zweifellos, dass sich sowohl im ganzen Land als auch bei den nach Paris gereisten Demonstranten auffällig viele Landbewohner befanden. Leute aus der «France profonde», wo tatsächlich das Leben hart und eintönig sein kann. Tiefe Löhne, relativ hohe Arbeitslosigkeit und wenig Abwechslung in Alltag und Freizeit bilden den Nährboden für Unzufriedenheit. Es den «Oberen», jenen «in Paris» einmal zu zeigen, liegt da nicht fern. Und «in Paris» bedeutet in der auf das Staatsoberhaupt zugeschnittenen Verfassung der 5. Republik: Zielscheibe ist der Präsident. Wut auf Macron ist also einmal institutionell bedingt.
Macron polarisiert
Zudem polarisiert der Mann. Zu schnell sind seine Gedankengänge, zu klar seine Logik und Sprache, zu eindeutig, wenn auch meist richtig, seine Diagnose. Zu festgefügt sein politisches Credo – ein kompetitives Frankreich in einem prosperierenden Europa – für den Durchschnittsfranzosen, den Macrons zwei Vorgänger an zappligen (Sarkozy) oder phlegmatischen (Hollande) Immobilismus gewöhnt haben.
Was Macron einigen Franzosen unsympathisch, und vielen Franzosen leicht unheimlich macht, ist seine offensichtliche Absicht, den Staat als «pater familias» des Landes etwas zurückzunehmen und damit dem Einzelnen wieder mehr Selbstverantwortung zu geben. Macron hat das erkannt und versucht, da wo der Staat die Nation tatsächlich verkörpert – am Nationaltag, an Gedenkfeiern, bei Staatsbesuchen – mitunter etwas pompös, meist aber würdig zu zelebrieren. Und auch in die Verantwortung zu nehmen.
So als er den Kolonialismus, historisch in Europa nur noch von England stärker verkörpert als von Frankreich, als Verbrechen gegen die Menschheit bezeichnete. Und dem er mit der eben dekreditierten Rückgabe von kolonialem Raubgut aus den grössten Museen Frankreichs an die Herkunftsländer in Afrika auch nachleben wird.
Vernünftige Politik
Ein Beispiel, das zeigt, dass Macron politisch kaum Fehler macht, jedenfalls von der Sache her. Seine Aussen- und Europapolitik ist schlicht eine Inspiration. Was gäbe Europa und die EU ohne Macron für eine Figur ab zu einem Zeitpunkt, wo sich in Deutschland eine personelle Wachtablösung abspielt und sich zunehmend finstere Nationalgesellen im Namen des Kontinents und seiner Werte bemerkbar machen? Wie neben den notorischen Orban und Kaczynski nun auch der Italiener Salvini und der Österreicher Strache.
Macrons Wirtschaftspolitik zielt darauf hin, endlich Ernst zu machen, um der Volkswirtschaft mehr Innovation, Bewegungsfreiheit und damit auch mehr Wettbewerbskraft zu geben. Seine Energie-, Ressourcen- und Digitalpolitik bewegen sich alle in der richtigen Richtung: weg von nuklearer und fossiler, hin zu erneuerbarer Energie. Besteuerung und Eingrenzung der Digitalindustrie, die sich auch in Europa mit Silicon-Valley-Allmacht breit zu machen droht. International kann man sich am Klimapolitiker Macron nur freuen, wie er «Paris» gegen Klimawandel-Leugner wie Trump und andere verteidigt. Und: Speziell in der Schweiz sollte man anerkennen, dass unter Macron mit der Schliessung des Nuklearkraftwerkes Fessenheim in der Dreiländerecke endlich Ernst gemacht wird. Auch gegen die eigenen Gewerkschaften.
Ausnahme Fiskalpolitik
Konnte man Macron bei seiner Kraftprobe mit den Eisenbahnern sowohl von der Materie – Beschneidung historischer, heute ungerechtfertigte Privilegien – als auch von der Form – ruhige Unbeirrbarkeit – her folgen, gilt dasselbe nicht von seiner Fiskalpolitik. Wohl im Bemühen, die französische Privatwirtschaft rasch wieder international konkurrenzfähig zu machen, hat er über das Ziel hinausgeschossen. Steuererleichterungen für Unternehmen und wohlhabende Einzelpersonen – welche sich ja auch und gerade in die Schweiz mit ihrer Pauschalbesteuerung abgesetzt hatten – gekoppelt mit mehr fiskaler Belastung von Dieselbenzin und Öl war zuviel des Guten.
Die seit der Finanz-/Wirtschaftskrise von 2007 und später rasch global zunehmende Ungleichheit innerhalb von eigentlich florierenden Volkswirtschaften ist natürlich auch in Frankreich eines der ganz grossen Probleme. Wenn in einer französischen Provinzstadt, also nicht auf dem Land, ein junger mir persönlich bekannter Digitalfachmann nach langer Jobsuche nur den Mindestlohn SMIG von gerade mal 1500 Euro pro Monat erhält, stimmt etwas grundsätzlich nicht mehr im Lohn- und Preisgefüge. Diese weit verbreiteten, tiefen Anfangslöhne in der französischen Privatindustrie sind ein Skandal. Volkswirtschaftlich widersinnig sind sie auch deshalb, weil nicht kaufkraftfördernd und gesellschaftspolitisch gefährlich, da so die breite Mittelklasse ausgeblutet wird.
Tut, was er sagt
Über seine eben verfügte Kosmetik am Benzinpreis hinaus, wird Macron also da ansetzen müssen, will er in drei Jahren wiedergewählt werden. Dafür stehen die Chancen nicht allzu schlecht, weil auch schimpffreudige Franzosen, «les râleurs», durchaus anerkennen, dass sie endlich eine Regierung haben, welche tut, was sie sagt. Zudem ist im Lande weit und breit keine auch nur annährend gleichwertige Konkurrenz auszumachen, weder links noch rechts vom Mittepolitiker Macron. Als Nachbarn und Europäer kann man in der Schweiz nur hoffen, dass er Erfolg haben wird.