Die Fantasie der Schriftsteller und die Macht der Ereignisse. Eine Panne regt zum Denken an.
Es gibt Augenblicke, um die ich ich Schriftsteller beneide. Sie können ihre erfundenen Personen in ihren Geschichte durch die Hölle schicken, ohne selber zu leiden, und nach getaner Arbeit den Computer ausschalten, ein Glas Wein trinken und sich von der Zeitung zu neuen Stories inspirieren lassen.
Seltsamer Geruch
Als Tagebuchschreiber auf Europas Flüssen hängt man sozusagen selber in den Seilen. Geschieht nichts, hat man nichts zu berichten, passiert aber etwas, mag dieses Etwas leicht ausser Kontrolle geraten.
Stellen Sie sich also vor: Es ist Sonntag. Die Crew der Solveig fährt, von Frankfurt kommend, bei schönstem Wetter gemächlich und zufrieden auf dem Main flussaufwärts, macht in Aschaffenburg in Sichtweite des imposanten Schlosses Halt für die Nacht, nimmt sich Zeit zu einem Bummel durch die wunderbare Altstadt, löst am nächsten Morgen in bester Stimmung die Leinen und nimmt Ziel auf Miltenberg, dem westfränkischen Städtchen am Rande des Odenwaldes, in dem man, gäbe es die Touristen nicht, meinen könnte, die Zeit sei vor ein paar hundert Jahren stillgestanden.
Die Solveig wird am Stadtquai fachgerecht festgemacht, Bordhündin Zora freut sich schon auf den Landgang. Der Kapitän öffnet, wie er es am Ende des Tages immer tut, die Luke zum Motorraum, um sich zu vergewissern, ob alles in Ordnung ist, da sticht ihm ein seltsamer Geruch in die Nase, der von einem dünnen Nebel ausgeht, welcher den Motor mit einem matt glänzenden Film überzogen hat. Das sieht nicht gut aus, wird es dem Kapitän schlagartig bewusst. Eine Mischung aus bitterer Enttäuschung und Hilflosigkeit überschwemmt sein Denken. Der blaue Himmel und das romantische Städtchen verschwinden hinter den bangen Fragen: Woher kommt das? Was machen wir jetzt? Und im Hinterkopf rührt sich auch schon der schreckliche Gedanke, wie man gehandelt hätte, wäre dies vor zwei Tagen auf dem wild daher strömenden Rhein passiert.
Pannen lieben Wochenenden
Die Versuchung liegt nahe, den Motorraum einfach wieder zu schliessen, sich wie ein Kind unter die Bettdecke zu verkriechen und es der Fantasie des Schreiberlings zu überlassen, für seinen „Helden“ einen Ausweg zu finden. Leider aber bin ich kein Geschichtenerfinder, und auch die Hoffnung, aus einem bösen Traum aufzuwachen, schwindet, je mehr ich mir die Augen reibe.
Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt! – So nahe liegen die Dinge manchmal beieinander. Diese Erfahrung machen wohl alle Schiffsbesitzer, die sich weiter hinaus wagen als nur zu einer kleinen Spazierfahrt am Sonntagnachmittag in Sichtweite ihres Hafens. Aber das eine gehört zum anderen, denn ohne das „Zu Tode betrübt“ gäbe es auch kein „Himmelhoch jauchzend“.
Auf jeden Fall ist es gut, für solche Momente ein Rezept zu haben, um den ersten Schock zu überstehen und zu vernünftigem Denken zurückzufinden. Als erster Punkt ist zu klären, ob eine unmittelbare Gefahr für Mensch und Schiff besteht (wie damals auf der Buhne mitten im stürmisch fliessenden Rhein). Weil bei stillstehendem Motor offensichtlich weder Gase noch Flüssigkeiten austreten und das Schiff sicher am Quai festgemacht ist, kommt die Mannschaft zum Schluss, es bestehe kein Grund zum überstürzten Handeln. Zudem ist es Sonntag. - Pannen treten prinzipiell am Wochenende auf, im schlimmsten Fall am Freitag so gegen 17 Uhr!.
Eigentherapie
Also kommt der zweite Punkt der Problembewältigung ins Spiel, sich Zeit nehmen zum näheren Hinschauen und zur Entwicklung eines Planes für die weiteren Schritte. Und drittens erinnern wir uns gegenseitig, meine Frau und ich, an unseren vor langer Zeit gefassten Vorsatz, über den allfälligen Verkauf unserer lieben Solveig prinzipiell nie unmittelbar nach einer Panne, aber auch nie an einem unfreundlichen, kalten Morgen oder am Ende eines Regentages zu entscheiden. – Nichts Besonderes also, quasi eine Art von psychologischer Eigentherapie mit dem Ziel, vom Ohnmachtsgefühl zum eigenen Handeln zurück zu finden.
Lassen wir die Crew jetzt vorerst einen Spaziergang mit Hündin Zora unternehmen, nachher auf Deck einen Apéritif trinken und sich dabei an das 1974 erschienene Buch von Robert M. Pirsig, „Zen und die Kunst ,ein Motorrad zu warten“ (1) erinnern, das in den Siebzigerjahren eine Art Kultstatus besass. Der Untertitel („An Inquiry into Values“) weist darauf hin, dass es nicht primär um das Motorrad und auch nicht um Zen geht, sondern um eine – wie Pirsig sagt –neue Art von Qualität bei der Betrachtung der Welt und um einen alternativen Umgang mit der zunehmend technisierten Welt.
Der Icherzähler, der sich selber Phaedrus nennt, reist mit seinem Sohn und einem befreundeten Paar („The Sutherlands“) per Motorrad von Minnesota nach Kalifornien. Kleinere und grössere Problemen, welche während der Reise mit seinem Motorrad auftauchen – hier also sind sie, die Pannen! –, veranlassen ihn zur Auseinandersetzung mit grundsätzlichen philosophischen Fragen. Er versucht, die von ihm benützte Technik zu einem Teil seines Weltverständnisses zu machen und sich so aus der Abhängigkeit von der technisierten Welt zu befreien.
Einblick - nicht nur in die Technik
Seine Haltung kontrastiert mit derjenigen der Sutherlands, welche ihr eigenes Supermotorrad, das sie für diese Reise gekauft haben, lediglich als Instrument für die Erfüllung des romantischen Traumes einer Reise quer durch Amerika verstehen, sich nicht für dessen Funktionsweise und Wartung interessieren, sondern dies lieber dem Mechaniker überlassen. Natürlich kommt es, wie es kommen muss: Nach der Hälfte der Reise geben die Sutherlands wegen technischen Schwierigkeiten frustriert auf und lassen den philosophierenden Vater mit seinem Sohn allein weiterziehen.
Ich gebe es offen zu, ich wäre gerne Phaedrus, aber leider wirft mich mein offenbar mangelndes technisches Wissen immer wieder in die ohnmächtige Rolle der Sutherlands zurück. Wenn ich dann aber zusehe, wie der Experte mit einem konkreten Problem umgeht, mit unserer Motorpanne zum Beispiel, frage ich mich, ob es vielleicht gar nicht so sehr mein mangelndes Wissen sei, sondern eher das fehlende Selbstvertrauen, sich ganz auf die Sache einzulassen, gepaart mit der Angst, den Weg zurück nicht mehr zu finden und die Dinge nicht mehr richtig zusammensetzen zu können.
Ohnmachtsgefühle
Ich denke, wir alle haben Lebensbereiche, bei denen wir diese Ohnmacht spüren, die einen beim Mechanischen, die andern beim Verstehen einer Gebrauchsanweisung für ein neues Handy oder bei der Mathematik oder bei einer Sprache. Aus der Jahrzehnte zurückliegenden Lektüre von Pirsigs Buch habe ich die Botschaft mitgenommen, diesem Ohnmachtsgefühl sei dadurch beizukommen, sich sozusagen rückhaltslos auf die Sache einzulassen. In gewissen Dingen ist es mir eher gelungen als in andern, und zu letzteren gehört offensichtlich noch immer mein Schiffsmotor.
In einem wichtigen Punkt hat sich Pirsigs Welt während der letzten Jahrzehnte allerdings wesentlich verändert. Die Dinge sind auch für einen Phaedrus immer weniger durchschau- und beherrschbar, seit die Mechanik zunehmend durch Elektronik und schliesslich durch Computertechnologie ergänzt oder gar ersetzt worden ist. Nicht einmal die Programmierer selber durchschauen die Dinge noch vollständig, die sie schaffen. Man erinnere sich nur an die IT-Panik, welche dem Wechsel ins neue Jahrtausend vorausgegangen ist. Insofern hat sich unsere Abhängigkeit von der Technik signifikant vergrössert. Ob Phaedrus mit einem modernen Motorrad auch noch zu jenem Verständnis finden würde, das Pirsig beschreibt?
Verschiedene Pausen
Doch zurück zur Solveig: Der Ausgang der Geschichte ist rasch erzählt. Der Präsident des Yachtclub Miltenberg, den wir um Hilfe baten, vermittelte uns noch am Sonntag einen befreundeten Schiffsmechaniker. Dieser diagnostizierte am dritten Zylinder einen Bruch der Injektordüsenhülse, welcher zur Versprühung von Kühlflüssigkeit und zum festgestellten Geruch geführt hatte. – Übrigens: Wie stellte der Fachmann fest, um welche Art von Flüssigkeitsverlust es sich handelt? – Mit der Zunge natürlich. Experten mögen mir meine diesbezügliche Naivität verzeihen.
Es verstrichen ein paar Tage, bis das Ersatzteil aus Belgien da war. Angesichts des schlechten Wetters nutzten wir die Wartezeit und fuhren über Pfingsten nach Hause.
Vielleicht beneide ich Schriftsteller doch nicht in allen Punkten: Sie mögen zwar immun sein gegenüber dem „Zu Tode betrübt“ ihrer erfundenen Personen, aber niemals lässt es sich höher Jauchzen, als wenn es um die eigene Geschichte geht, um die Fahrt auf dem Main mit dem reparierten Schiff zum Beispiel. Allerdings muss die Donau nun bis zum August warten, denn in Kürze machen die Solveig und der Berichterstatter Sommerpause.
(1) Originaltitel: Zen and the Art of Motorcycle Maintenance, William Morrow & Company, 1974