Die Last der Hast kennen wir alle. Wir erfahren unsere Epoche als dynamisches Gebilde. Vorwärts, Tempo, Non-Stopp sind ihre Merkmale, „Move“ und „Beats per minute“ Kernbegriffe. Die gesellschaftliche Devise: immer schneller, immer effizienter. Aus dem Transit ist ein Prinzip geworden, unsere Existenzform die Rasanz. Wir leben um die Wette und wollen alle Sieger sein: Be fast oder be the last. Fortschritt wird mit unentwegter Beschleunigung gleichgesetzt. Die Moderne ist gekennzeichnet vom Fliehenden und Flüchtigen, von der fortwährenden Abspaltung von Tradition und Herkunft. Zugunsten einer Zukunft, die sich immer schwieriger prognostizieren lässt.
Der Zeitgeist heisst Tempo
Der Telegraph hob den Raum auf, das Internet die Zeit. Das natürliche Tempo des Menschen hinkt hinterher. Das bringt uns in Atemnot, auch in den Schulen. Der französische Dichter Charles Baudelaire formulierte die neue Erfahrung vor vielen Jahren in einem einzigen und lapidaren Satz: „Le temps mange la vie.“ [1] Die Zeit zehrt das Leben auf.
Nun sind sie gekommen, die kostbarsten Wochen des Jahres, wie ein Neckermann-Katalog die Ferientage einmal euphorisch bezeichnet hat. Sie könnten uns zeigen, dass es auch das Konträre gibt, das Verweilen, die Weile, die Lange-Weile. Jeder kennt sie, diese Langeweile, keiner mag sie. Eigentlich schade. Dabei gehörte diese Zwillingsschwester der Musse doch zum Luxus. Luxuriös lebe, wer über das Notwendige wie Zeit und Musse, Raum und Ruhe verfüge. So wenigstens sieht es Hans Magnus Enzensberger in seinem „Dialog über den Luxus“. [2] Das seien heute die wirklich raren Luxusgüter geworden.
Langeweile als „Windstille der Seele“
„Hier stösst die Eile auf Zeit“, steht über der winzigen Eingangstüre einer schmucken Bergkapelle. Die alte Inschrift lädt zum Verweilen ein. Ähnlich wie Ludwig Wittgensteins Gruss des Philosophen: „Ich habe Zeit.“ Doch wer hat heute noch Zeit? Und wer hat schon lange Zeit, oder eben: Lange-Weile? Und wer kann sich noch – wie Friedrich Nietzsche in Sils Maria – lange weilende Spaziergänge leisten und dabei die „Windstille der Seele“ geniessen. So erlebte er die Langweile – als inspirative Zone des Innehaltens und Verweilens, als kreativer Raum des Nachdenkens und Begrifflich-Werdens des Gedachten. Es ist ein verweilendes Denken, dem keine App zu Hilfe eilt.
Plädoyer für die Musse
Die Flaneure von einst sind verschwunden. Und die faulen Burschen der Volkslieder gibt es nicht mehr, diese Vagabunden, die gemächlich von einer Mühle zur andern zogen und unter freiem Himmel schliefen. Ein tschechisches Sprichwort beschreibt ihr süsses Nichtstun mit einer Metapher: Sie schauen dem lieben Gott ins Fenster. Wer dem lieben Gott ins Fenster schaut, langweilt sich nicht. Im Gegenteil. Er ist zufrieden, gar glücklich.
In unserer Welt ist der Müssiggang – oder eben die Musse – zur Untätigkeit geworden; doch das ist etwas ganz anderes: Der Untätige langweilt sich. Er ist ständig auf der Suche nach Aktivität und Bewegung; sie fehlen ihm sonst. Darum flüchtet er die Langeweile und sucht „Action“. Vielleicht stürzt er sich deshalb am Bungee-Seil von Brücken und sucht im Erlebnispark den Nervenkitzel, zieht im Kaufrausch durch die Konsumtempel oder fliegt und flieht um die ganze Welt.
Bildungsprozess als „Verdauensprozess“
Wenn es also wahr ist, dass wir auf der Überholspur leben und getrieben vom Etcetera, hat das Konsequenzen für die Schule. Die Folgen sind sichtbar: Der Lehrplan wird dichter, das Unterrichtsmaterial dicker und das Lernen so beschleunigt. Die Devise: mehr in kürzerer Zeit – und früher. Doch der Lernweg ist keine Schnellstrasse, Bildung ein langsamer Prozess. Niemand gelangt auf Autobahnen in den Zustand des Wissens und Könnens. Schulisches Lernen lässt sich weder technisieren noch automatisieren; es verläuft nicht gradlinig-linear, schon gar nicht von Algorithmen gesteuert. Lernen ist eingebettet in Soziales; Reifwerden vollzieht sich im Miteinander. Unterrichten und Erziehen ist ein Geschehen zwischen zwei Freiheiten, d. h. zwischen Menschen.
Es ist das simple Geheimnis allen Lernens und aller Bildung: dass beides Arbeit bedeutet und anstrengend ist. Wissen und Können lassen sich nicht in Eile konsumieren, so wie wir uns ein Glas Wasser einflössen. Das versucht nur der Nürnberger Trichter. Schon Sokrates karikierte diesen Versuch: Es sei, wie wenn man einem Blinden das Gesicht einsetzen wolle. Das Aneignen von Wissen muss durch mich hindurchgehen; ich muss es erarbeiten und in mich einarbeiten, verarbeiten und reflektierend in Zusammenhang setzen. Erst dann kann ich verstehen. Friedrich Nietzsche nannte diesen (Aneignungs-)Vorgang sinngemäss: „Ich verdaue es.“ [3] In diesem „Verdauen“ realisiert sich der Bildungsprozess. Auch das Verdauen braucht eben seine Zeit, braucht Verweilen und Vertiefen. Zeit ist die Voraussetzung des Lernens.
Hetze als Feind des Schönen und Guten
„Hier stösst die Eile auf Zeit.“ Das gilt nicht nur für die Ferientage. Das gehörte über jede Schultüre geschrieben. Eindringlich mahnt der Hirnforscher Gerhard Roth: „Hetze und Hektik müssen zur Schule raus!“ Lernen benötigt Zeit; es lässt sich nicht beschleunigen. Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zupft.
Warum wohl fasziniert Michael Endes Roman „Momo“ noch immer? Die diebischen „grauen Herren“ stahlen die Zeit. Doch das Kind brachte den Menschen die geraubte Zeit zurück – und damit eine gewisse Ruhe und Musse. Beides braucht es über die Urlaubszeit hinaus und braucht es in den Schulen. Denn „alles Schöne und Gute“, so Robert Walser, „scheitert nur immer an der Unruhe.“ [4] Wie wohltuend tönt da der Gegenbegriff „Musse“. Er schreibt sich vom altgriechischen „scholé“ her: Schule als „Musse“. Das Wort wirkt seit bald 3‘000 Jahren als Weckruf. Vermutlich liegt darin das Geheimnis eines lernwirksamen Unterrichts.
[1] Charles Baudelaire, Les Fleurs du Mal, „L’Ennemi“. 1857
[2] Hans Magnus Enzensberger, Dialoge zwischen Unsterblichen, Lebendigen und Toten. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2004, S. 203ff.
[3] Friedrich Nietzsche, Kritische Studienausgabe in 15 Bänden (KSA), hg. von Giorgio Colli, Mazzini Montinari, Berlin/New York 1988. Bd. 11. S. 539, 608f.
[4] Robert Walser, Träumen. Prosa aus der Bieler Zeit. 1913–1920. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1985.