Seit Wochen stehen sich die Armeen Chinas und Indiens im nördlichen Grenzgebiet in Schussdistanz gegenüber. Beide sind bereit, zur Waffe zu greifen, falls die Verhandlungen der Sektor-Kommandanten über die genaue Linienführung des ungeregelten Grenzverlaufs – der Line of Actual Control – ebenfalls im Sand verlaufen.
Indisch-chinesische Asymmetrie
Die suggerierte Symmetrie dieser Beschreibung ist jedoch irreführend. Auf der von China besetzten Seite stehen nicht nur Soldaten mit Gewehren, sondern auch schwere Artillerie, Panzerfahrzeuge und ... Baumaschinen. Auf der anderen Seite stehen weit weniger Truppeneinheiten, meist nur mit leichten Waffen ausgerüstet. Schweres Geschütz ist, glaubt man indischen Medien, ebenso wenig sichtbar wie Betonmischer und Planierfahrzeuge.
Die naheliegende Ursache ist zweifellos die ungleiche Motivation der beiden Generalstäbe. China will den Status quo verändern, Indien kann damit leben; China ist darauf aus, seine expansiven Grenzforderungen durchzusetzen, sei es durch Waffen oder Drohgebärden. Indien möchte ebenfalls Terraingewinne erzielen, wenn möglich aber durch Verhandlungen statt mit Kanonendonner; es kann mit dem Patt leben.
Es gibt auch eine tiefergehende Erklärung für die Asymmetrie. Der chinesische totalitäre Staat hat klare weltpolitische Ziele, er analysiert Kräfteverhältnisse und Strategien des Gegners; er entwickelt seine eigenen, formuliert Ziele und Zeitpläne und setzt diese konsequent um.
Der indische Staat dagegen spiegelt eine äusserst heterogene Gesellschaft, deren Vielfalt durch die demokratische und föderale Staatsform gefestigt wird. Wenn der Staat Ziele formuliert, werden diese regelmässig durch Kompromisse verwässert und verzögert. Im politischen Bereich, etwa in den Beziehungen mit China, scheint die Strategie darin zu bestehen, auf jene Chinas zu reagieren.
Militärische Defizite auf 5000 Meter Höhe
China hat seine Grenze in Tibet mit einem dichten Strassennetz, militärischen Stützpunkten und der Schaffung neuer Grenz-Korps „armiert“. Derweil wurde Indiens Haltung der Öffentlichkeit diese Woche drastisch vor Augen geführt. Der oberste Geschäftsprüfer des Zentralstaats stellte fest, dass die Regierung die Armee-Einheiten auf dem Siachen-Gletscher – auf über 5000 Metern der höchstgelegene Kriegsschauplatz der Welt – sträflich vernachlässigt. Es fehle an adäquater Bekleidung (Handschuhe, Schuhe, Schneebrillen), an Zelten und Nahrungsmitteln für ein Wetter mit minus 30 Grad.
All dies, so der Comptroller&Auditor General, sei gesetzlich vorgesehen und werde dem Budget jedes Jahr belastet. Auf dem Weg zur Beschaffung und Lieferung versickerten jedoch bis zu achtzig Prozent des Materials; oder die vorgesehenen Haushaltsmittel würden in dubiose Kanäle abgelenkt. Der einzige Trost angesichts dieses Sachverhalts ist, dass es zumindest öffentlich registriert wird.
Auch unter Premierminister Modi hat sich also wenig verändert, obwohl sich dieser gern als harter Saubermacher projiziert. Es ist vielleicht noch schlimmer geworden, weil die Medien immer stärker drangsaliert werden und sich scheuen, ein kritisches Scheinwerferlicht auf die Machthaber zu richten.
Zweierlei Pandemie-Rezepte
Ich benütze den Vergleich mit China, weil er erklärt, warum die Corona-Pandemie in Indien so anders abläuft als beim fernöstlichen Nachbarn. Wenn der Staat sogar seine Armee vernachlässigt, und dies an einer überaus verwundbaren Grenze, wird er seine Verantwortung bei der eigenen Zivilgesellschaft kaum vorbildlich wahrnehmen.
Diese verfügt über wenig Mittel, ihre Rechte – etwa auf Bildung und Gesundheit – einzufordern. Ein dünn gewobenes Gesundheitsnetz sorgt dafür, dass sich die Infektion beinahe ungehindert ausbreitet, nachdem der Lockdown Millionen von Migranten schutzlos auf die Strasse gestellt hat. Damit hat sich das Land in der weltweiten Ansteckungsskala nach oben katapultiert und liegt nun mit knapp 800’000 an dritter Stelle.
Auch die Zahl der täglichen Neu-Infektionen erreicht fast täglich neue Höchstwerte (am Donnerstag überschritt sie die Marke von 25’000). Zum ersten Mal steigt auch die „Reproduktionsrate“ wieder, nachdem sie seit dem 19.März stetig gefallen war (sie misst die Zahl von Personen, die ein Infizierter neu ansteckt).
Hohe Dunkelziffer
Die Zahl der Toten liegt mit über 21’000 immer noch relativ tief. Dies hat die zuständige Behörde (ICMR – Indian Council for Medical Research) zur Behauptung veranlasst, dass die Lethalität des Virus bei Indern im internationalen Vergleich wesentlich tiefer liege (0,08% vs. 0,5-1%).
Fachleute stellen diese Behauptung in Frage, da sie die geringe Anzahl von Tests nicht berücksichtige. Diese sind in Indien immer noch sehr tief und lassen daher eine hohe Dunkelziffer von Infektionen vermuten. Selbst in den USA sollen sie in bestimmten Regionen das Zehnfache der durchgeführten Tests erreichen, wie dies der Direktor der Centres for Disease Control in Atlanta kürzlich behauptete. Sie dürfte in Indien mindestens gleich hoch sein.
Herdenimmunität heisst Massenansteckung
In einem kürzlichen Interview mit dem TV-Moderator Karan Thapar erklärte ein Gesundheitsökonom, auf dem Lande bestehe das Problem nicht nur in fehlenden Krankenhäusern und Test-Apparaturen. Auch wenn solche vorhanden sind, würden sie gerade von älteren Menschen gemieden, weil sie befürchten, dort eher angesteckt zu werden als zuhause.
Sie sterben also daheim und werden als „verstorben gemäss einem natürlichen Tod“ registriert. Es ist ein Zuhause, das in der grossen Mehrheit immer noch von Drei-Generationen-Familien bevölkert wird, mit den entsprechenden Ansteckungsrisiken für die Grosseltern.
Epidemiologen sprechen aus, was ICMR und Politiker zu sagen vermeiden: Indien bewegt sich auf das Unausweichliche vor, nämlich eine Herden-Immunität, oder weniger elegant formuliert: eine Massenansteckung. Sie dürfte bis zu 50 Prozent der Bevölkerung treffen, was im Fall Indiens heisst: knapp 700 Millionen Menschen.
Wer bei dieser Zahl erbleicht, soll durch folgendes Argument getröstet werden: Neunzig Prozent der Bevölkerung sind weniger alt als sechzigjährig. Dies bietet die Chance, dass die meisten Ansteckungen nicht tödlich verlaufen und die Betroffenen zudem eine Immunität entwickeln.
Was geschieht mit den Risiko-Patienten über 60?
Doch was geschieht mit den Risiko-Patenten über sechzig – immerhin 140 Millionen Menschen? Sie müssen in die Quarantäne, bis ein Impfstoff vorhanden ist. Doch in einem Land mit dieser Bevölkerungsdichte und einer weitgehend manuellen Dienstleistungsökonomie kommt dies für viele Alte einem Todesurteil gleich.
Wie lange es noch dauert, bis ein Impfstoff vorhanden ist, weiss niemand auf der Welt – ausser vielleicht die indische Virus-Behörde ICMR. Auch in Indien gibt es mehrere Firmen, die dazu forschen, darunter eine namens Bharat Biotech, die mit einem Dutzend staatlicher Spitäler unter ICMR-Kontrolle arbeitet. Letzte Woche schrieb dessen Direktor einen drohenden Brief an die Krankenhaus-Teams. Sie sollten sich beeilen, damit der Impfstoff Covofax bis zum 15. August bereitstehe; falls nötig seien die – eben begonnenen – Personen-Tests „abzukürzen“.
Ein indischer Corona-Impfstoff?
Indien hat eine effiziente Impfstoff-Industrie – die Firma Serum Institute in Pune ist die weltweit grösste Produzentin –, jedoch mit relativ geringer eigener Forschung. Das ICMR-Schreiben wurde daher mit beissender Kritik quittiert. (Von den rund 125 Impfstoff-Entwicklungen weltweit haben lediglich zehn die erste von vier Testphasen erreicht.) Kurz darauf wurde das Schreiben mit der Begründung korrigiert, das Datum des 15. August sei irrtümlich mit „2020“ statt „2021“ versehen worden.
Viel wahrscheinlicher ist, dass politischer Druck auf den Direktor ausgeübt wurde. Es wird spekuliert, dass Premierminister Modi am 15. August 2020 – Indiens Unabhängigkeitstag – der Welt verkünden wollte, dass sein Land als erstes einen Impfstoff hergestellt hat.
Kanonenfutter – trotz Demokratie
Der leichtfertige Umgang mit nationalen Sicherheitsrisiken – seien sie militärisch oder gesundheitspolitisch – zeigt, dass dem indischen Staat die Glaubwürdigkeit abgeht. Dies gilt für einen Gegner wie China – oder gegenüber dem eigenen Volk.
Die Tragik liegt darin, dass ein demokratischer Staat mit dem Leben seiner Bürger umspringen kann, als wären sie Kanonenfutter, ob Soldaten im Himalaya oder Migranten auf der Landstrasse. Nun kommen noch Millionen älterer Bürger hinzu, die bei einer Herden-Immunität vielleicht Jahre in der Quarantäne verbringen müssen, bis ein effektiver Impfschutz vorliegt.