Die Geschichte schlägt so ihre Kapriolen. Die alten Forderungen der Arbeiterbewegung, gerechter Lohn, erträgliche Arbeitsbedingungen, soziale Sicherheit, müssten heute in erster Linie im offiziell kommunistischen China erkämpft werden. Auf der letzten Insel des Sozialismus in der Karibik strömen die Massen über die Plaza de la Revolución. In den USA wird der Labor Day im September begangen, in Europa ist der 1. Mai Folklore, im Bundesstaat Schweiz nur regionaler Feiertag, und in Zürich interessiert im Wesentlichen, ob es nach dem Umzug zu Krawallen kommt oder nicht.
Verblichene Feindbilder
In den schlechten alten Zeiten löste der Fabrikbesitzer, leicht erkennbar an Zigarre und Zylinder, den Lehnsherrn als Feindbild ab. Er knipste dem Arbeiter den Mehrwert von seiner täglichen schweisstreibenden Werktätigkeit ab und verwandelte ihn in Kapital. Dazu machte sich der Kapitalist einen schönen Tag und sorgte mit Hilfe von Kirche, Staat, Armee und Polizei dafür, dass frech die Faust in die Luft reckende Arbeiter zur Räson gebracht wurden. Das waren noch Zeiten mit klaren Feindbildern.
Wie entsteht Wohlstand?
Schon seit ihren Anfängen bei Adam Smith und David Ricardo beschäftigt sich die ökonomische Theorie mit der interessanten Frage, wie und wo eigentlich Wohlstand – oder moderner: Wertschöpfung – entsteht. Und damit, wie eine gerechte Verteilung aussehen könnte. Seit Hammer und Sichel, die klassischen Symbole der Arbeiterbewegung, dabei eine immer kleinere Rolle spielen, wird die Antwort darauf, wie fast alles in der modernen sogenannten Wirtschaftswissenschaft, immer diffuser.
Wenn sich ein Tierfell in einen Schuh oder ein Eisenerzklumpen in Stahl verwandelt, ein Samenkorn in Mehl, dann ist die Antwort ja noch einfach. Aber welche Wertschöpfung betreibt ein Sachbearbeiter Aktenablage A bis C, der Schreiber dieser Zeilen, oder gar das moderne Feindbild Banker? Und wenn diese drei eigentlich überflüssigen Sesselfurzer keine wertschöpfende Leistung erbringen, wem nehmen sie dann den Ertrag sinnvoller Arbeit weg, und wie?
Bewegung ohne Arbeit
In weiten Teilen Europas hat die Arbeiterbewegung ein ziemlich fundamentales Problem: Ihr geht die Arbeit aus. Das gilt nicht nur für die Träger blauer Übergewänder, sondern auch für angestellte Krawattenträger, selbst für Banker. Jedem zweiten spanischen Jugendlichen sind zurzeit Gesamtarbeitsverträge, Ferienregelungen und der Umfang der Sozialleistungen ziemlich wurst, denn er hat schlicht und einfach keine Arbeit.
Selbst im Musterland Deutschland wächst das Heer derjenigen, die im 40. oder 50. Altersjahr auf eine Karriere zurückblicken können, die aus abgebrochener Ausbildung, Umschulungsmassnahmen, Arbeitslosengeld und Hartz IV besteht – und aus sonst nichts. Mehr als die Hälfte aller Deutschen beziehen in der einen oder anderen Form staatliche Zuschussleistungen, so dass sich auch hier die Frage stellt, wo die eigentlich erwirtschaftet werden. Und wie es eine kleine Schicht von Deutschen dennoch weiterhin schafft, in den exklusiven Klub der Multimillionäre aufzusteigen.
Umverteilung durch Handel
Es ist klar: zunehmende Globalisierung hilft dem Händler. Kaufe ein Produkt billig ein, schippere es um die halbe Welt und verkaufe es dort teurer, wo mehr Kaufkraft existiert. Mehr Kaufkraft existiert, wenn ein Klumpen Erz nicht in ein Stahlblech, sondern letztlich in ein High-Tech-Instrument verwandelt wird, sei das ein Computer, ein pharmakologisches Produkt oder auch eine mechanische Uhr.
Von den dabei entstehenden Ungerechtigkeiten, Sweat-Shops in China, Kinder- und Sklavenarbeit in der Dritten Welt, profitiert dann allerdings der europäische Arbeitnehmer genauso wie der Millionär, der Sesselfurzer oder der Arbeitslose. Hat also alles nicht mehr wirklich mit dem Kampftag der Arbeiterbewegung zu tun, zumindest nicht in Europa oder in der Schweiz.
Nostalgischer Mythos
Genau wie der 1. August in der Schweiz ein historischer Mythos ist (der Rütlischwur fand nach Aegidius Tschudi ja am 8. November 1307 statt), ist es vielleicht an der Zeit, den 1. Mai auch als nostalgische Folkloreveranstaltung zu begreifen. Oder uns die Kubaner als Beispiel zu nehmen, die den Tag nicht für die Durchsetzung von Arbeiterrechten nützen, sondern als willkommenen Anlass für eine saftige Fiesta.
Denn Hand aufs Herz, was soll der Arbeiter in der Schweiz denn im Ernst erkämpfen? Mehr Lohn für weniger Arbeit, ausser für Banker? Arbeit für alle, ausser für Ausländer? Oder ist es mal wieder Zeit für einen schönen, nostalgischen Kalauer aus den guten alten Zeiten? Der geht so: Der Arbeiter heisst Arbeiter, weil er etwas arbeitet. Der Unternehmer heisst Unternehmer, weil er etwas unternimmt. Würde der Arbeiter was unternehmen, müsste der Unternehmer arbeiten.