Im jährlichen Dodis-Bericht (Herausgabe von diplomatischen Dokumenten nach den gesetzlichen 30 Sperrjahren), freigegeben am 01.01.24, wird das diplomatische Jahr 1993 beleuchtet. Hauptthema war damals, und bleibt heute, das Verhältnis der Schweiz zu Europa. Auch andere aussenpolitische Realitäten sind seither unverändert geblieben.
Seit der knappen aber negativen EWR(Europäischer Wirtschaftsraum)-Abstimmung von 1992 ist das Verhältnis zwischen der Schweiz und der EU zerrüttet. Die bilateralen Abkommen waren ein Heftpflaster, das der Schweiz einen Notzugang zum europäischen Binnenmarkt erlaubt hat. Die nie genesene Wunde muss nun neu durch die Bilateralen III verarztet werden. Dass die Weiterführung des Zugangs zum Binnenmarkt sowohl von Seiten der EU als auch der Schweiz – entsprechend einer kürzlichen Umfrage wollen eine klare Mehrheit von Schweizerinnen und Schweizern ein geordnetes Verhältnis zu Europa – positiv beurteilt wird, ist heute bereits ein Lichtblick. Offen bleibt die Wunde, da in zahlreichen anderen gesamteuropäischen Belangen – Migration, Klima, Regelung von Zukunftstechnologien, Sicherheitspolitik insbesondere mit einem MAGA-Trump in Washington – die Schweiz nicht an Entscheidfindung und Beschluss der EU beteiligt ist und ihr nolens volens nur Nachvollzug bleibt.
1993: Europäischer Optimismus trotz allem
Trotz dem deprimierenden Nein zum EWR-Ende 1992 – am berühmte «Dimanche noir» des damaligen Bundesrates Delamuraz – blieb die Landesregierung auch im unmittelbaren Nachgang dazu optimistisch, dass die folgende Epoche mit einem bilateralen Zugang zur damaligen EG (Europäische Gemeinschaft) ein kurzzeitiges Provisorium bleiben würde vor einem definitiveren Entscheid, ob voller Beitritt oder doch ein zweiter Anlauf zum EWR. 1993 signalisierte der Bundesrat im aussenpolitischen Bericht, dass ein Beitritt noch in diesem Jahrhundert wahrscheinlich sei.
Das wurde damals auch an bilateralen Treffen mit den Chefs der wichtigsten Partnerländer so dargelegt, was deren Entgegenkommen förderte, der Schweiz die Extrawurst eines vorläufigen bilateralen Zugangs zum europäischen Markt zu erlauben. So wird der damalige Bundeskanzler Kohl im Dodis-Bericht mit dem Zitat erwähnt «Schweizer Trotz hilft auf die Dauer nichts»; auch der damalige französische Präsident Mitterrand liess sich überzeugen, dass die Schweiz in ihrem eigenen Interesse bald beitreten würde, wie sich das für die übrigen europäischen Neutralen Österreich, Schweden und Finnland damals abzeichnete.
Hektische Stagnation
Wie man nun weiss, trat dies leider nicht ein. Vielmehr folgten 30 Jahre hektischer Stagnation in der schweizerischen Europapolitik, die sich primär darauf kaprizierte, möglichst viele bilaterale Vorteile zu erreichen, ohne bleibende Verpflichtungen übernehmen zu müssen. Auch wenn 2024 mit den Bilateralen III eine weitere provisorische Lösung gefunden werden sollte, ist emotionslos festzustellen, dass die Schweiz über 30 Jahre hektischer Stagnation in unserem Verhältnis zu Europa hinweg auf einen Kurs von konservativem Nationalismus eingeschwenkt ist. Der von Blochers SVP 1992 mit seiner Schmutzpropaganda gegen Europa – Brüssel als moderner Habsburger Drache, der die wehrhafte Schweiz verschlingen will – eingeleitete Prozess hatte ungeahnten Erfolg über weite Teile der politischen Schweiz hinweg und führte zu einem generellen Rechtsruck auch links von der SVP. Hatte die FDP Anfang 90er Jahre den Beitritt noch in ihrem Parteiprogramm, so meinte der Präsident der Jungen(!) FDP in einer öffentlichen Diskussion kürzlich kategorisch: «Beitritt der Schweiz zur EU: Nein.»
Die Ukraine ist auch Europa
Dies ist umso kurzsichtiger, als spätestens seit dem kürzlichen Entscheid der EU, mit Kiev Beitrittsverhandlungen aufzunehmen, die Ukraine ein unverzichtbarer Teil von Europa geworden ist. Die schweizerische Ukrainepolitik ist also Teil unserer Europapolitik. Auch hier ist heutzutage nichts von europäischem Bewusstsein der Schweiz auszumachen. Es herrscht primär Verweigerung: keine Waffenlieferungen wegen dem Neutralitätsdogma, keine Finanzhilfe wegen Schuldenbremse und konservativer Nationalbank und auch keine schweizerische Vermittlung, die offensichtlich nicht gefragt ist. Der Lichtblick besteht hier in der Absicht des EDA, über zehn Jahre für sechs Milliarden Franken Wiederaufbauhilfe leisten zu wollen. Aber auch das ist mit Schatten behaftet, sollte diese Summe auf das Konto von Unterstützung des Globalen Südens gehen.
Europäisches Bewusstsein
Europäisches Bewusstsein wäre hier einmal angezeigt, weil auch uns wohlgeneigte internationale Beobachter dieser Ukrainepolitik mit Unverständnis und Kritik begegnen. So etwa das verkörperte Gewissen Deutschlands, der ehemalige Bundespräsident Joachim Gauck in einem Jahreswechsel-Gespräch in den TA-Medien, der mehr Solidarität mit der von Putins Aggression schwer geprüften Ukraine als Jahrhundertaufgabe Europa sieht. Aber auch im ureigenen Interesse unseres Landes sind grössere Anstrengungen der Schweiz dringend nötig. So beispielsweise in der Sicherheitspolitik. Wie unsere Verteidigungsministerin eben betont und der neu ernannte Staatssekretär im VBS, Brigadier-General Markus Mäder nachdrücklich unterstrichen hat, wird die massive Erhöhung des Wehrbudgets, um sinnvoll zu sein, auch engere und mehr Zusammenarbeit im Rahmen von NATO und der sicherheitspolitischen EU mit sich bringen. Um in beiden Organisationen ernst genommen zu werden, muss die Jungfrau Helvetia von der unbefleckten (Neutralitäts-)empfängnis abrücken und schönen Worten Taten zu Gunsten der Ukraine folgen lassen, dem gegenwärtigen, dringenden Brennpunkt der NATO.
Auch hier kontrastiert die ergebnisorientierte, offene Politik Anfang der 90er Jahre mit der gegenwärtigen Neutralitätsängstlichkeit. Wie im Dodis-Bericht nachzulesen ist, erlaubte der Bundesrat damals im Rahmen der primär serbischen Aggression in Bosnien-Herzegowina ein erstes Mal militärische Überflüge der NATO über die Schweiz – «neutrality be damned».
Naher Osten
Neutralitäts-Fetischisten verweisen gerne auf die angeblich nur wegen der Neutralität möglichen Guten Dienste der Schweiz, im Sinne einer geschichtlichen, unverrückbaren Realität. Der Dodis-Bericht geht auch auf die damalige Nahostpolitik des Bundesrates ein, mit Berichten über Kontakte in Israel ebenso wie mit der PLO; dies aber immer im Rahmen der damals dominanten Verträge von Oslo. Die wichtigsten im Spannungsfeld Nahost je geführten Verhandlungen fanden unter der Ägide der USA in der Hauptstadt des NATO-Mitgliedes Norwegen statt und nicht im internationalen Begegnungsort Genf und noch weniger in der neutralen Schweiz.
Dies entspricht einem im Dodis-Bericht erwähnten Resumé des damals als schweizerischer Botschafter in Washington abtretenden Edouard Brunner, der ausdrücklich festhielt, dass seit Ende des Kalten Krieges Washington sein Interesse an schweizerischer Neutralität verloren habe.
Heute steht mit Blick auf den Nahen Osten mit der Aktualität des Krieges zwischen Hamas und Israel die Mitgliedschaft der Schweiz im UNO-Sicherheitsrat im Mittelpunkt. Die Schweiz hat sich in New York im Rahmen ihrer Möglichkeiten bislang gut geschlagen. Positiv ist insbesondere, dass die aussenpolitische Diskussion in der Schweiz damit ein entsprechendes Bewusstsein hierzulande verstärkt hat. Das Bewusstsein nämlich, was ein mittelgrosser europäischer Staat angesichts zunehmender Schwerpunktverlagerung von Europa weg auf der globalen Bühne ausrichten kann und vor allem was nicht. Insbesondere, wenn ihm das spezifisch schweizerische Handicap anhaftet, nicht an den zwei Strukturen EU und NATO teilzuhaben, die global für ein starkes Europa stehen.
Im Nahen Osten wird weiterhin schweizerische Vermittlung von Konfliktparteien offenbar nicht nachgefragt, was deren konstantes Anbieten eigenartig erscheinen lässt. Genf und das Weltwirtschaftsforum in Davos sind internationale Treffpunkte, welche mit spezifisch schweizerischer Leistung wenig zu tun haben.
Seldwylereien
Schliesslich werfen auch institutionelle Probleme Schatten auf die schweizerische Aussenpolitik. Entgegen einem oft gehörten Bonmot ist nicht alle Aussen- Innenpolitik, sondern gerade umgekehrt: Dominiert die Innen- alle Aussenpolitik wird letztere zur Mühsal- und Peinlichkeit. Beispielhaft steht dafür etwa die innerschweizerische Diskussion über Spesenentschädigung für ausländische Arbeitnehmer zu einem Zeitpunkt, wo in Brüssel um Unterstützung für die Ukraine und damit um die Antwort auf die Schicksalsfrage nach der Zukunft der Demokratie in Europa gerungen wird.
Dem dabei aktiv als europäische Abrissbirne tätigen und Putin zudienenden Viktor Orbán haben rechtskonservative Kreise, angeführt von Blochers SVP, kürzlich in Zürich zugejubelt. Ausgerechnet die zwei Vertreter dieser Partei im Bundesrat sind mit zentralen Dossiers in unseren Verhandlungen mit Brüssel betraut. Werden Sie über den Schatten ihrer Parteidoktrin, die grundsätzlich zu allem Europa nein sagt, springen wollen, springen können?