Beim Lesen von Tagebüchern lässt sich beruhigend viel aufsammeln. Wetternachrichten gehören zu den wenigen Notizen, die der Kritik späterer Jahre entgehen.
In Joachim Lesers Newsletter (www.bluetenleser.de/newsletter) wird auf ein soziales Projekt um Tagebücher verwiesen, das in San Francisco stattfand und nun als TV-Film kommt. Das Thema hat Konjunktur, aus NY hat gerade Andrea Köhler über eine offenbar faszinierende Ausstellung berichtet: http://www.nzz.ch/nachrichten/kultur/aktuell/die_mitschrift_des_herzens_1.10160281.html.
In fremden Tagebücher zu lesen, kann beruhigend wirken. Wer am Südrand der Republik (der deutschen, der helvetischen, der französischen) nun schon wieder besorgt in den Garten schaut, weil das warme Wetter die Pflanzen zwei Wochen früher ins Blühen und die Schnecken in Gang bringt: soll sich hinterher ans Bücherregal stellen und zum 19. Band des «Journal. Memoires de la vie littéraire» des alten Edmond de Goncourt greifen. Ein in Pergamin gebundener Band, man muss die Seiten erst aufschneiden, mit der langen Klinge des schärfsten Küchenmessers, und erfährt durch solches Handwerk gleich die Faltung der Bogen. Ein einziges Mal wurden diese Tagebücher ungekürzt gedruckt (Monaco, 1956), in einer Auflage von reichlich 5000 Exemplaren, nummeriert. Sie haben sich für das großzügig gesetzte Werk einen zweifarbigen Druck geleistet. Ja, 25 Bände, inklusive einer Biographie über das Brüderpaar Edmond und Jules de Goncourt, die das Tagebuch gemeinsam begannen. Nach dem Tod des jüngeren Bruders notierte Edmond noch die restlichen 26 Jahre seines Lebens weiter, als ob er durch die Lebensmitschrift auch die Verbindung zu dem geliebten Toten halten könnte. Interessiert hat ihn vor allem der Literaturbetrieb seiner Zeit: Paris also, unterm dritten Napoleon, nach der deutschen Invasion und der Commune, und dann in der Taumelphase aus bürgerlichem Parteiengeschäft und kapitalistischem Großbetrug, an das sich ein in der Wolle gefärbter Monarchist wie er erst gewöhnen musste. Mit den Daudets befreundet, den Aufstieg Zolas scharf und neidisch beobachtend, die Beliebtheit des ständig besoffenen Verlaine bei der jungen Generation fassungslos im Blick. Als der junge Marcel Schwob, seinerseits ein Wunderkind der Hauptstadtszene, beim literarischen Diner aus den ersten Übersetzungen von Walt Whitman vorliest, erkennt Goncourt sofort die Qualität des Amerikaners. Die überragende Qualität der skandinavischen Theaterautoren mochte er nicht anerkennen; sie waren für ihn direkte Konkurrenz.
Gerade seine einseitigen Fokussierungen bleiben interessant. Der alte Junggeselle sammelte neben japanischer Kunst auch dekorative Pissschalen von Damen der besseren Gesellschaft seiner Lieblingsepoche, dem 18. Jahrhundert. Er fuhr nicht ungern Eisenbahn, hasste aber die Überwältigung durch das neumodische, kalte, elektrische Licht. Zu seinen Phobien gehörte auch ein durchgehend sich regender Antisemitismus; der grassierte in Paris sowieso, die aufkommende Dreyfus-Affäre notierte er sorgfältig. (Alarmisten unserer Tage, die am liebsten das Konterfei von Le Corbusier aus den Schweizer 10-Franken-Noten radieren würden, hätten reichlich Grund, im nächsten November eine Sternfahrt nach Paris zu organisieren, wenn der Prix Goncourt verliehen wird, um die Umbenennung des Literaturpreises zu fordern.)
Aber wir waren beim Wetter, beim vorschnell sommerlichen dieses Aprils; und beim Trost, der sich aus Tagebüchern gewinnen lässt:
Am 8. Juli 1893 hört Goncourt im Restaurant Voisin dem Geplauder des Wirts zu, der aus Bordeaux stammt. Dort seien die Trauben schon so weit, dass die Ernte im August, also zwei Monate früher als gewöhnlich, beginnen werde. «Le raisin, ajoutait-il, est si abondant qu‘il y aurait cette année la récolte de la moyenne de quatres années.» Dieser Jahrhundertjahrgang ist bedauerlicherweise in einem neueren Grundlagenwerk nicht berücksichtigt: www.libelle.ch > «Literatur & Alkohol» …
Der 71jährige Tagebuchschreiber Goncourt, allein lebend, oft eingeladen, von den besseren Kreisen und politisch mächtigen Zirkeln hofiert: Keine drei Jahre vor dem Ende seines Lebens war er immer noch scharf auf öffentlichen Erfolg mit (grausam langweiligen) Theaterstücken; dass ihm ein Zeitschriftenverleger jedes Jahr weniger Honorar zahlte für den Vorabdruck seines jeweils neuen Tagebuchbands, notierte er still resigniert. Hauptsache gedruckt, der Tagesruhm war ihm sicher, vom Bestand seines Tagebuchprojekts in künftigen Zeiten war er ohnehin überzeugt.