Im stotzigen Appenzellerland hat die ehemalige chinesische TV-Reporterin Yu Hao eine Heimat gefunden – und mit und dank ihr das Heimweh entdeckt. Davon erzählt ihr Dokumentarfilm „Plötzlich Heimweh“ (*), eine spannende, anregende Auseinandersetzung mit Identität, Nähe und Zugehörigkeit.
Heimweh
Glücklich der Mensch, der eine Heimat hat, weiss der Volksmund. Aber kann der Mensch vielleicht sogar überglücklich sein und zwei Heimaten haben? Heimaten? In seiner Mehrzahl ist das Wort eher ungebräuchlich. Das spricht schon mal gegen unsere These.
Yu Hao, heute 42, war jahrelang als Reporterin des staatlichen chinesischen Fernsehens unterwegs und ist zweifellos eine kosmopolitische Erscheinung. Bei einer ihrer Reportagen lernte sie den Appenzeller Ernst Hohl kennen, Innenarchitekt und Unternehmer, heute 76, als Geschäftsmann und als Kulturkenner ähnlich vielseitig unterwegs wie sie. Daraus wurde Liebe, und Yu Hao zog von Peking nach Urnäsch, aus dem endlos riesigen China ins abgeschlossene, eng begrenzte Appenzellerland. Die Alpen, Hügel und Täler um Säntis und Altmann wurden ihr zur Heimat.
Auf einer Reise mit Ernst Hohl durch Asien, so erzählt Yu Hao, zivilrechtlich inzwischen Hao Hohl-Yu, habe sie plötzlich ein ihr bisher unbekanntes neues Gefühl verspürt: Heimweh. Heimweh nicht etwa nach China, nein, Heimweh nach Urnäsch.
Wichtige Ausstellung
„Der Mensch hat nur eine Heimat“, folgert Yu Hao aus diesem Erlebnis, und sie habe sie erst im Appenzellerland gefunden, wo sie seit nunmehr 13 Jahren lebt. Als Reporterin sei sie nur „immerzu herumgereist“ und „nirgendwo zu Hause“ gewesen. Sie habe sich selber als Beobachterin empfunden, als Aussenseiterin geradezu, nicht als Zugehörige. Da stutzen wir dann doch. Warum soll nicht auch der Aussenseiter, die Aussenseiterin ein Bedürfnis nach Heimat haben – und einen Anspruch auf Heimat erst recht? Die selbsternannten Heimatbesitzer und Heimatverwalter allerorts, die gerne bestimmen würden, wer dazugehört und wer nicht – die kennen wir doch. Ihr Spiel wollen wir nicht mitspielen.
Also: Stimmt das denn wirklich, das mit der einen, ausschliesslichen Heimat? Kann der Mensch nicht auch zwei (oder mehr) Heimaten haben? Wenn wir bei Yu Haos Kommentar zu ihren stimmungsvollen, vorzüglich geschnittenen Bildern aus China und aus dem Appenzellerland genau hinhören – zum Beispiel dann, wenn sie ihre ehemaligen Schulfreundinnen in Peking trifft und mit ihnen über Nähe spricht und über Zugehörigkeit –, dann denken wir doch: Nicht allein Appenzell, auch China ist für Yu Hao wesentlich Heimat.
Für diese Vermutung spricht noch ein anderes, überaus starkes Indiz: Als Kuratorin des Museums Haus Appenzell, das Ernst Hohl seit Jahren mitten in der Zürcher City betreibt, schafft Yu Hao bei ihren Ausstellungen immer wieder Parallelen zu ihrer ursprünglichen Heimat, entdeckt Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den volkskundlichen Manifestationen der Schweiz und Chinas. Aktuell sind da, unter dem Titel „Zuckerschleck & Mehlgebäck“, gerade Lebkuchen und Biberfladen aus dem Appenzellischen und Teigfiguren aus China zu sehen, und damit sowohl Geissen, Bläss und Sennenchutte aus dem Alpstein als auch Fische, Tiger und Lotusblumen aus Asien. Das bestärkt uns doch sehr in unserer Überzeugung: Jemand, der einen so wachen, intimen Zugang pflegt zur Volkskultur zweier Länder, der hat wohl auch – mindestens – zwei Heimaten.
(*) „Plötzlich Heimweh“. Ein Film von Yu Hao, 79 Minuten
„Zuckerschleck & Mehlgebäck“. Teigfiguren und Zuckerkunst von Appenzell bis China. Ausstellung im Haus Appenzell, St. Peterstrasse 16, 8001 Zürich (bis 25. April 2020).