Der Abspann des Filmes Heimatland ist lang, - sind es zwei- oder
dreihundert Namen? Das erste Mal in meiner 40-jährigen Zeit im Schweizer Film kenne ich nur einen Namen, den des chronischen Laferi Jean Ziegler, der sich einmal mehr selber darstellt. Der Generationenwechsel ist endgültig vollzogen.
Noch bis vor kurzem gingen drei Generationen von Filmschaffenden ineinander über. Man fand ihre Namen in den Credits aller in der Schweiz produzierten Filme, naheliegend vor allem von Technikern. Das ist endgültig vorbei. Gut so, denn nicht nur das Personal hat in diesem erstaunlichen Film gewechselt, sondern auch die Gestaltung, der Drive, die Stimmung.
Aus Morgenrot wird Abendschwarz
Heimatland greift überzeugend ein Motiv aus dem Science Fiction
Genre auf: eine dunkle Wolke mit gewaltiger Energie legt sich über das Land. Das erinnert an den beklemmenden Roman des Astrophysikers Fred Hoyle The Black Cloud aus dem Jahr 1957, in welchem es einem Physiker gelingt, mit einer die Erde bedrohenden interstellaren intelligenten Wolke zu kommunizieren und sie dazu zu bewegen weiter zu ziehen. Der Physiker geht dabei zugrunde.
Mit der Wolke, welche über der Schweiz steht, kommuniziert
niemand. Sie ist schon eher das Bild einer tiefen Depression,
welche sich über das Land gelegt hat. Sie macht sich durch
Stromausfälle und Sturmböen bemerkbar und bedroht die Einwohner
in ihrem saturiert geregelten Alltag. Sie provoziert Chaos
und Angst. Und so verfallen die Bewohner dieses Landes ihren
schlechtesten Seiten, beginnen zu plündern, gegen nicht vorhandene
Feinde zu hetzen, versuchen zu fliehen. Die Wolke wird
so zum Spiegel, welcher die verdeckten Spannungen und Widersprüche der Schweiz schonungslos offenbart. Zehn Filmschaffende haben sich zusammen getan, um diese Geschichte in neun Episoden zu erzählen.
Und es gelingt ihnen einen packenden Film aus einem Guss zu machen (auch wenn hie und da ein Anschluss nicht ganz plausibel ist). Dabei spielen sie gekonnt auf den Möglichkeiten der Filmsprache, mit bescheidenen Mitteln zwar, aber durchdacht. Eigentlich würde diese Filmidee ja eher einen zweistelligen Millionenbetrag erfordern. Sie haben es mit sehr viel weniger gemacht. Damit erfüllen sie das alte künstlerische Postulat der Ökonomie der Mittel.
Das Swiss Made der 68er
In den Anfängen des "jungen", unterdessen pensionierten
Schweizer Films, gab es ein ähnliches Experiment mit dem Titel
Swiss Made. Yves Yersin, Fredi M. Murer und Fritz E. Mäder
versuchten 1968 in drei Episoden der Schweiz in einem Spielfilm
ebenfalls den Spiegel vorzuhalten.
Im Gegensatz zu den zehn Neuen gelang es den Damaligen nicht, einen gemeinsamen Nenner zu schaffen, eine übergreifende Stimmung zu erzeugen, welche sich zu einer Metapher für die damalige Befindlichkeit verdichtete. Zu unterschiedlich war die Qualität der Episoden, zu unterschiedlich die Herangehensweise der drei Regisseure.
Umso höher ist die Leistung der zehn Neuen zu würdigen. Das Vorurteil, die Jungen seien völlig auf ihren Bauchnabel fixiert, erhält hier einen gehörigen Stoss. Es muss sehr schwierig gewesen sein, die zehn verschiedenen Temperamente auf ein Ziel hin zu bündeln, um so mehr, als auch noch zwei Regisseure aus der Romandie dabei sind. Aber es ist gelungen. Wer weiss, vielleicht entsteht aus diesem Cluster ein neuer Aufbruch, eine "neujunge" Filmproduktion in der Schweiz, die endlich auch geistig wieder ernst zu nehmen ist.
Schweizer als Flüchtlinge
Denn das ist das eigentlich Bemerkenswerte an Patrie amère, wie der französische Titel präzisiert. Er setzt sich mit der Schweiz politisch auseinander, ohne dass es zu einem ideologischen Diskurs käme, wie er so typisch für die 68er war. Der Film erzählt Geschichten aus dem Alltag verschiedenster Gesellschaftsschichten, schafft eine Stimmung, welche durch starke Bilder erschliesst, wie es um dieses Land im Ernstfall – und es ist ja immer ein bisschen Ernstfall in der Schweiz - beschaffen ist.
Der Schluss des Filmes zeigt dies vielleicht am besten. Wie in Markus Imhoofs Das Boot ist voll (1981) stehen wir wieder an der Brücke über den Rhein, wo Flüchtlinge versuchen, ans lebensrettende andere Ufer zu kommen. Aber diesmal mit umgekehrten Vorzeichen. Es sind die Schweizer, denen der Zutritt zu Europa verweigert wird. Fassungslos sieht ein Geschäftsmann aus unserem Lande zu, wie ein Asylant, ein "Yugo" mit seinem europäischen Pass von den deutschen Behörden durchgelassen wird. Er hat Frau und Kinder, was die Szene noch ergreifender macht. Der Schweizer hat zwar Geld, aber der Grenzbeamte weigert sich, es anzunehmen.
Die neuen Zehn sind: Lisa Blatter, Gregor Frei, Jan Gassmann, Benny Jaberg, Carmen Jaquier, Michael Krummenacher, Jonas Meier, Tobias Nölle, Lionel Rupp, Mike Scheiwiller.
Die künstlerische Leitung und die Gesamtdramaturgie hatten Jan Gassmann und Michael Krummenacher. Chapeau!
Der Film läuft zur Zeit in den Deutschschweizer Kinos.