Eckhard Nordhofen hat in der Zeitschrift «Merkur» seine Abschiedsvorlesung «Idolatrie und Grapholatrie» publiziert. Der Titel lässt nicht ohne weiteres ahnen, welch gewichtiges Vermächtnis der Philosoph und Theologe seiner Hörer- und Leserschaft da überreicht hat. Nordhofen gibt einen Einblick in das Wesen und die historische Entwicklung von Schriftreligionen und Monotheismus. Vor allem aber nimmt er hierbei eine noch kaum diskutierte Differenzierung vor, die weitreichende Bedeutung hat.
Vom Poly- zum Monotheismus
Die älteste der monotheistischen Schriftreligionen, das Judentum, ist aus einer Auseinandersetzung mit polytheistischen Kulten hervorgegangen, zu denen die Verehrung von Götterbildern gehörte. Diese Idolatrie (von «eidolon», Götterbild oder –figur, und «latreia», Verehrung oder Anbetung) ist im Alten Testament als Versuchung und Negativfolie vielfach präsent. Der prophetische Kampf gegen die «Götzen» und die als oberste der Zehn Gebote stipulierten Mahnungen – keine anderen Götter! keine Gottesbilder! – zeugen von einem grossen, über Jahrhunderte ausgefochtenen Kampf für ein damals umwälzend neues Gottesverständnis. Selbst eine der in der hebräischen Bibel verwendeten Gottesbezeichnungen spiegelt diese Geschichte: «Elohim» ist eine Pluralform, die als Singular gebraucht wird und spiegelt so sprachlich noch die alten polytheistischen Wurzeln der israelitischen Religionsgeschichte.
Zunächst ging es in dieser Auseinandersetzung mit überkommenen Glaubensvorstellungen noch um die Treue zu einem bestimmten unter den vielen Göttern. Die in älteren Schichten der Bibel von den Israeliten geforderte Monolatrie war eine Vorstufe zu dem, was wir unter Monotheismus verstehen. Erst im fünften vorchristlichen Jahrhundert, zur Zeit des babylonischen Exils der jüdischen Elite, reifte in Auseinandersetzung mit verschiedenartigen Einflüssen die Vorstellung des einen Gottes, der – anders als im ägyptischen «monotheistischen» Sonnenkult – ausserhalb des natürlichen Kosmos stand und eine eigene Klasse des Seienden bildete. Das Judentum reservierte in seinen Schriften diesem gegenüber den früheren Vorstellungen ganz anderen Gott sogar ein sprachliches Zeichen, das der ausserweltlichen Position Gottes entspricht: das nicht auszusprechende Tetragramm JHWH.
Aufklärung im fünften Jahrhundert vor Christus
Die Epochenschwelle von den idolatrisch-polytheistischen Religionen zur monotheistischen Schriftreligion im Judentum des Alten Testaments ist – da befindet sich Nordhofen im Mainstream religionshistorischer Forschung – ein kulturgeschichtlicher Moment der Aufklärung. Sie hob nicht nur den vordergründigen Widerspruch auf, dass im Fall der Idolatrie die von Menschen gemachten Figuren als über die Menschen herrschende Götter gelten sollten. Auch die für polytheistische Religionen typische Funktionalisierung der Götter unterlag nun der Kritik: Der Umstand, dass für jeden Belang unterschiedliche Gottheiten zuständig waren, entlarvte das Kultische insgesamt als religiöse Überhöhung menschlicher und gesellschaftlicher Bedürfnisse. Hinter diesen in der hebräischen Bibel dokumentierten geistigen Umbrüchen stehen die gleichen religionskritischen Ideen wie in der etwa zeitgleichen antiken griechischen Philosophie.
Seit Adornos und Horkheimers «Dialektik der Aufklärung» gilt als ausgemacht, dass der Prozess der Aufklärung niemals eine lineare Forschrittsgeschichte ist. Indem die Überwindung der Idolatrie zu einer – Nordhofen prägt diesen Begriff – «Grapholatrie» führte, also zu einer Schriftverehrung, war der nicht greifbare, der «ganz andere» Gott dann doch in einem Buch, beziehungsweise in einer Schriftrolle gewissermassen anwesend. Die Schrift, die quasi von ihm stammte, indem sie als von ihm autorisiert galt, machte den Gott, der ausserhalb dieser Welt ist, gleichzeitig zu einer Entität in dieser Welt. Schrift und Buch sind – nun anstelle der abgeschafften Götterfiguren – der «Ort Gottes» für die gläubigen Menschen.
Heilige Schriften als Instrumente der Macht
Bei Juden, Christen und Moslems hatte diese paradoxe Gleichzeitigkeit im Verhältnis zwischen Gott und dem heiligen Buch eine entsprechende kultische und spirituelle Praxis zur Folge. Die heiligen Schriften wurden verehrt, studiert und zur Grundlage für Kult und Alltag gemacht. Als Offenbarungen Gottes behielten sie eine gewissermassen ausserweltliche, jenseitige Qualität. Und doch waren sie in verständlicher, ja oft unmissverständlicher Sprache abgefasst; das heisst, sie griffen ein in die Welt. Wer die Deutungshoheit über diese Texte besass, konnte eine gewissermassen überirdische Macht in religiösen, aber mitunter auch in sehr weltlichen Belangen beanspruchen.
Der Ägyptologe und Kulturwissenschafter Jan Assmann hat aus diesem Grund über die monotheistischen Schriftreligionen das Verdikt verhängt, sie hätten den absoluten Gegensatz zwischen Gott und Götzen, zwischen Richtig und Falsch in die Welt gebracht. Mit derart totalen Wahrheitsansprüchen sei erst die strukturelle Grundlage aller totalitären Herrschaftssysteme und Glaubenskriege gelegt worden.
Assmanns Monotheismusthese versagt zwar in vielen konkreten Situationen, aktuell etwa angesichts von Gewalteruptionen seitens hinduistischer Extremisten gegen (vor allem) muslimische Bevölkerungsgruppen in Indien. Zudem ist sie nun ihrerseits eine grobe Wahrheitsbehauptung, die den vielschichtigen und widersprüchlichen geschichtlichen Fakten nicht immer gerecht wird. Insbesondere kommt nicht in den Blick, dass der Glaube an den einen Gott auch dazu motiviert hat, die Gleichheit aller Menschen zu postulieren. Der massgebliche Beitrag der Quäker bei der Abschaffung der Sklaverei etwa speiste sich aus dieser Überzeugung.
Trotzdem ist Assmanns Theorie nicht einfach falsch. Sie richtet den Fokus auf ein strukturelles Moment des Monotheismus und trägt so zweifellos bei zur Erhellung der Hintergründe zahlloser Beispiele jüdischer, christlicher und moslemischer Gewalttaten in Geschichte und Gegenwart wie auch der blutigen Auswirkungen säkularisierter Heilslehren des vergangenen und jetzigen Jahrhunderts.
Ein verwandelter Gottesglaube
Auch Nordhofen will mit seiner Abhandlung nicht hinter diese kritischen Einsichten bezüglich der monotheistischen Schriftreligionen zurückgehen. Er setzt jedoch einen anderen Schwerpunkt: Ihm kommt es darauf an, ein zweites Schwellenereignis in der Entwicklung des Monotheismus zu beleuchten, das diesen grundlegend verwandelt hat. Es ist dies die Vorstellung von der Inkarnation, das heisst der Menschwerdung der göttlichen Botschaft.
Der Prolog des Johannesevangeliums drückt diese radikal neuartige religiöse Idee so aus: In Jesus als Erstem – und dann auch in allen, die ihm nachfolgen – ist das Wort Gottes «Fleisch», also diesseitige Wirklichkeit geworden. Nicht mehr die Schrift ist somit der «Ort Gottes» in der Welt, sondern der Mensch, der sich Gottes Botschaft anvertraut.
Hier hat nach Nordhofen ein abermaliger «Medienwechsel» des Monotheismus stattgefunden (der Begriff des Mediums ist in einem sehr weiten kulturwissenschaftlichen Sinn gebraucht). Es ist ein Übergang, der zugleich eine Überbietung ist. Die Schrift als religiöse Autorität sollte nach dieser neuen Sicht nicht verschwinden, aber sie reichte nicht mehr aus. Wie ein roter Faden zog sich der Grundsatzstreit mit den Schriftgelehrten durch Jesu Praxis und Predigt. Die heiligen Schriften blieben in Geltung, aber Jesus wollte mehr als die Schrift kann. Es ging ihm nicht um die buchstäbliche Einhaltung der Gebote, sondern um ein Leben in deren Sinn. Gerieten Geist und Buchstabe der religiösen Vorschriften in Konflikt (etwa bei der Frage, ob am Sabbat ein Kranker geheilt werden dürfe), so hatte die freie, dem Sinn und Geist der Gebote gerecht werdende Lesart Vorrang.
Unterscheidung zwischen Christen und Christen
Für Nordhofen ist klar: Das Christentum zusammen mit Judentum und Islam als Schriftreligion zu etikettieren im Sinn eines grapholatrischen Kults, ist ein populäres Missverständnis. Denn aufgrund der geschilderten zweiten revolutionären Wende in der Geschichte des Monotheismus ist die Bibel des Christentums gewissermassen entsakralisiert. Sie steht der wissenschaftlichen Erforschung und der historisch-kritischen Deutung offen. Die Bibel ist in dem Sinn keine «heilige» Schrift, denn im Gegensatz etwa zum Koran (zumindest nach vorherrschendem muslimischem Verständnis) ist sie keine Manifestation des Jenseits. Die Bibel ist ein historisches Dokument, geschrieben von Menschen unter bestimmten geschichtlichen und kulturellen Umständen. Für Nordhofen ist diese Feststellung nicht ein bedauerliches Zugeständnis, sondern vielmehr Anerkennung einer besonderen Qualität: «Das exegetische Säurebad bringt die Substanz zum Glänzen und macht das Christentum modernitätskompatibel, gerade weil es den historischen Kontext erschliesst.»
Allerdings, und das ist eine wichtige Einschränkung, gilt das nicht für fundamentalistische Christen, die der Bibel im Sinn der «Grapholatrie» eine absolute Autorität zuschreiben. Fundamentalisten verschaffen sich damit einen undiskutierbaren Wahrheitsanspruch, aus dem sie unverrückbare Normierungen ableiten und eine Gottesnähe usurpieren, die sie in den Stand setzt, in allem den Willen Gottes zweifelsfrei zu kennen.
Nordhofen stellt dies in einen grossen religiösen Zusammenhang: Wie Gott sein zu wollen, das war der biblische Sündenfall – wobei der Wunsch sich ja nicht erfüllte; die Schlange im Paradies hatte bekanntlich gelogen. Diese Geschichte, so Nordhofen, zeige den Sinn des theologischen Begriffs der Erbsünde auf: «Sie erzeugt die Spannung, die jedem einen Schlag versetzen sollte, der im Begriff ist, sich auf den Thron Gottes zu schleichen.»
Fundamentalismus oder Freiheit
Nordhofen lässt offen, worin ein Äquivalent zur christlichen Inkarnationslehre beim Judentum zu sehen wäre. Denn offensichtlich kennt diese Religion ganz ähnliche Spannungen zwischen fundamentalistischen Wahrheitsbesitzern und liberalen Wahrheitssuchern, wie sie auch im Christentum zutage treten. Der Islam hingegen scheint zurzeit eine Entwicklung zu durchlaufen, in der die einst sehr ausgeprägte geistig-religiöse Vielfalt und kulturelle Lebendigkeit immer mehr verschwinden und ein zunehmend strengerer Fundamentalismus die Deutungshoheit beansprucht. Da ist kaum etwas zu entdecken von jener zweiten Wende des Monotheismus, die das Individuum befreit und in die Verantwortung stellt.
Nordhofen beendet seine Abschiedsvorlesung mit der Bemerkung, es gebe «in Religionswissenschaft und Theologie derzeit kaum ein aktuelleres Thema als die Grapholatrie». Man könnte anfügen, genau dies sei auch für die Kirchen ein ebenso dringendes wie verdrängtes Problem. Sie haben in ihren Reihen viele Fundamentalisten und kultivieren zahlreiche grapholatrische Residuen. Solches zum Thema und zum Streitgegenstand zu machen, wäre eine längst überfällige Auseinandersetzung der Kirchen mit sich selbst. Es ist ein Zeichen intellektueller Schwäche und geistlicher Mutlosigkeit, dass dies allzu selten geschieht.
Eckhard Nordhofen: Idolatrie und Grapholatrie. Eine Medienkonkurrenz der monotheistischen Religionen und Konfessionen, in: Merkur Nr. 791, April 2015