Vorläufig dürften die Olympischen Spiele, die am 27. Juli in London beginnen, die Amerikaner mehr interessieren, als wer am 6. November ihr nächster Präsident wird. Auf jeden Fall sind die Spiele jeweils ein Anlass, der die Nation eint und sich gut fühlen lässt, egal, wie obskur die Disziplinen sind, in denen Amerikas Athleten ihre Medaillen gewinnen. Sieg bleibt Sieg.
Gold, Silber und Bronze in grosser Menge wiederum sind Balsam auf die Wunden einer nationalen Seele, die in jüngster Zeit viel Gerede über den Niedergang der Vereinigten Staaten hat erdulden müssen. Denn zumindest im Sport ist Amerika weltweit nach wie vor die Nummer eins – schneller, höher, stärker. Obwohl auch hier die Rivalen aus China am Aufholen sind.
Der politische Prozess steht still
Hingegen bietet die nationale Politik eine unverzeihlich dröge Show. Entsprechend tief ist die Einschaltquote. Der politische Prozess in den USA ist praktisch zum Stillstand gekommen, Demokraten und Republikaner stehen sich unversöhnlich gegenüber, Sachfragen bleiben ungelöst. Die Wirtschaft lahmt noch immer, der Immobilienmarkt schwächelt und die Arbeitslosigkeit will nicht sinken. Währenddessen ist der Wahlkampf bisher auf Nebenschauplätzen ausgefochten worden. Themen wie Abtreibung, gleichgeschlechtliche Ehen oder Einwanderung dominierten den politischen Diskurs.
Schon gar nicht wird über Wahlkampffinanzierung gesprochen, obwohl das viele Geld, das Interessengruppen und reiche Individuen mit Hilfe so genannter SuperPACs in das Rennen um die Präsidentschaft pumpen, den Volkswillen immer stärker verfälscht. Schätzungen zufolge werden Demokraten und Republikaner bis Anfang November mehr als eine Milliarde Dollar für Fernsehwerbung ausgeben, obwohl deren Wirkung diversen Untersuchungen zufolge gering ist und höchstens ein, zwei Prozent der Wähler umzustimmen vermag. Trotzdem kann negative TV-Werbung in einem engen Rennen den Unterschied ausmachen. Zur Erinnerung: 2000 unterlag Al Gore in Florida George W. Bush um lediglich 540 Stimmen. Ein früherer Berater Barack Obamas schätzt, dass beide Parteien 2012 insgesamt über 2,6 Milliarden Dollar an Wahlkampfspenden einsammeln werden, wovon sie zwei Drittel für Werbung ausgegeben dürften.
"Wie in einem Bordell in Bangkok"
Noch nie sei das Desinteresse am amerikanischen Wahlkampf grösser gewesen als dieses Jahr, mutmasst Matt Taibbi in seinem „Taibblog“ im Magazin „Rolling Stone“: „Wie um diesen Umstand zu kaschieren, lesen wir jetzt Berichte, dass diese Wahl offener sei als gedacht, dass Obama „ein erbitterter Zweikampf“ mit Romney bevorstehe und der republikanische Herausforderer „aufhole“ oder praktisch „gleichauf“ sei.
Doch Amerikas Medien, diagnostiziert Taibbi, seien schlicht unfähig, sich einzugestehen, dass die Wahl bereits gelaufen sei, und würden „aufgrund eines neurologischen Reflexes“ jeden Präsidentschaftswahlkampf als „äusserst umstritten“ charakterisieren: „Doch dieser Wahlkampf wird, relativ gesagt, weder eng noch umkämpft sein. Stattdessen wird das Rennen enttäuschend und beschämend verlaufen und sehr rasch vorbei sein, wie ein Handjob in einem Bordell in Bangkok.“
Der hölzerne Romney
Es sei jedenfalls unmöglich, folgert der „Rolling Stone“-Autor, Mitt Romney als Kandidaten ernst zu nehmen: „Die republikanische Basis ist zorniger und entschlossener, als sie es je gewesen ist. Trotzdem haben republikanische Wähler in den Vorwahlen ausgerechnet jenen Kandidaten zu ihrem Favoriten erkoren, der sie kalt lässt.“ Dieser Einschätzung widersprechen allerdings Umfragen, wonach Romneys Beliebtheit in jüngster Zeit stark gestiegen ist. Sahen Mitte März lediglich 58 Prozent republikanischer Wähler Obamas Herausforderer positiv, so waren es Ende Mai laut einer Umfrage von „Washington Post“ und „ABC News“ bereits 78 Prozent.
Zwar halten Mitt Romneys Berater nach wie vor fest, dass im November allein der Zustand der Wirtschaft die Präsidentenwahl entscheiden werde. Sie räumen jedoch ein, dass es für einen Wahlsieg ein gewisses Mass an Popularität braucht und dass im Fall ihres Kandidaten, der seines hölzernen öffentlichen Auftretens wegen als „Robo-pol“ tituliert worden ist, Nachholbedarf besteht. Dies umso eher, als Barack Obama ein glänzender Redner ist und an den Erfolg seiner Auftritte im Wahlkampf gegen John McCain 2008 anzuknüpfen hofft.
Unruhe bei den Demokraten?
Was dem Präsidenten laut Jennifer Rubin, einer konservativen Bloggerin der „Washington Post“, nicht gelingen dürfte. Sie hat unlängst „10 Anzeichen, weshalb Obama am Ertrinken ist“ aufgelistet. Die Indizien reichen vom Umstand, dass der Präsident nach wie vor Worte statt Taten sprechen lasse, über die Feststellung, dass Demokraten sich in aller Öffentlichkeit „ängstlich“ zeigten, bis hin zum Sachverhalt, dass Republikaner neuerdings statt Fox News einen linken Sender wie MSNBC schauen würden, um sich am Niedergang der Liberalen zu ergötzen.
Jennifer Rubin beruft sich in ihrer Analyse auf mehrere Berichten in amerikanischen Medien, wonach unter Demokraten Unruhe ausgebrochen sei, weil sie angesichts der schlechten Wirtschaftslage, der steigenden Popularität Mitt Romneys und einzelner Wahlkampfpannen die Chancen Barack Obamas auf einen Sieg am 6. November schwinden sähen. So kam zum Beispiel die von eingefleischten Demokraten geleitete Gruppierung „Democracy Corps“ auf Grund von Befragungen in den Wackelstaaten Ohio und Pennsylvania zum Schluss, das Argument des Präsidenten, wonach eine leichte Erholung der Wirtschaft bevorstehe, nehme die Alltagssorgen der Wähler zu wenig ernst.
Hat Obama keinen Fahrplan, kein Programm?
Der Präsident hatte kurz davor Schlagzeilen gemacht mit der Bemerkung, der amerikanischen Privatwirtschaft gehe es gut, was angesichts jüngster Zahlen, was die Schaffung neuer Arbeitsplätze betrifft, wohl in etlichen Ohren wie Hohn klang. Laut „Democracy Corps“ mangelt es Barack Obama an einer überzeugenden Vision, wie er sie vor vier Jahren, verknüpft mit Begriffen wie „Hoffnung“ oder „Wechsel“, noch hatte: „Yes, we can“.
Nur selten, so die demokratischen Abweichler, sei ein amerikanischer Präsident wieder gewählt worden, der ausser seinem Leistungsausweis im Amt nicht auch eine überzeugende Vision für die Zukunft des Landes präsentiert habe. Obamas heutige Botschaft an die Wähler sei viel zu statisch, zu vage und zu stark auf die Gegenwart ausgerichtet. „Es gibt keinen Fahrplan, kein Programm, keine Überzeugung, was die Richtung betrifft, in die der Präsident die Nation führen will“, sagt der Umfragespezialist Peter Hart.
Republikanische Selbstkritik
Barack Obamas Berater weisen diese Art von Kritik entschieden zurück. Die Taktik von 2008, argumentieren sie, lasse sich angesichts veränderter Umstände nicht wiederholen. Auch könne sich ihr Chef als amtierender Präsident nicht mit demselben Aufwand in den Wahlkampf stürzen wie vor vier Jahren, als er erst Senator war. Die Berater betonen, sie würden sich, anders als die vom Vorwahlkampf ermüdeten Republikaner, messerscharf auf jene 13 Schlüsselstaaten konzentrieren, in denen die Präsidentenwahl im Herbst entschieden werden dürfte.
Währendessen mangelt es auch auf republikanischer Seite nicht an Selbstkritik. Jeb Bush, zeitweilig als Vizepräsidentschaftskandidat gehandelt, äusserte sich bei einem Auftritt vor Journalisten von Bloomberg in New York unerwartet kritisch über den Zustand seiner Partei. Ronald Reagan und sein Vater, sagte der Ex-Gouverneur von Florida, hätten in der republikanischen Partei heute keinen Platz mehr, da sie seinerzeit zu stark auf Kompromisse mit dem politischen Gegner bedacht gewesen seien. Die beiden, so Bush, hätten dank dem Support beider Parteien etliches erreichen können, eine Taktik, wofür sie heute wohl kritisiert würden. Die Republikaner tolerierten keine Dissidenten mehr, die versuchten, in der Politik auch Gemeinsamkeiten zu finden.
„Geben wir’s zu. Die Republikaner sind schlimmer“
Kritik äussert auch Norm Ornstein, ein Politologe der konservativen Denkfabrik „American Enterprise Institute“ in Washington DC. Ornstein hat zusammen mit einem liberalen Kollegen in der „Washington Post“ einen Artikel publiziert unter dem Titel: „Geben wir’s zu. Die Republikaner sind schlimmer“. Darin wirft er den Republikanern vor, sich wie eine parlamentarische Opposition zu gebärden und Kompromisse bereits zum Voraus abzulehnen in einem System, das wechselnde Mehrheiten kennt und nur funktioniert, wenn beide Seiten sich in der Mitte treffen. Norm Ornstein zitiert einen republikanischen Senatskandidaten, der sich unlängst wie folgt geäussert hat: „Überparteilichkeit sollte darin bestehen, dass die Demokraten den Standpunkt der Republikaner übernehmen.“
„Rolling Stone“-Autor Matt Taibbi zufolge spielt es am Ende keine Rolle, wer im November in Amerika die Wahl gewinnt. Der Kampf zwischen Obama und Romney, folgert er, fühle sich an wie eine Auseinandersetzung zwischen zwei berechnenden Zentristen, die sich darum stritten, einem aufgeblähten Staatsapparat vorzustehen, der gemäss der selben verrückten, imperialen Logik agiere, unabhängig davon, wer im Weissen Haus sitzt. „Das Rennen um die Präsidentschaft“, sagt Taibbi, „ist lediglich eine grosse Illusion, die dazu dient, die Leute von wichtigeren politischen Themen im Lande abzulenken.“