«Hallo Berlin» sagt Ole Baekhoej (Foto: Peter Adamik). Der Däne ist Intendant des Pierre-Boulez-Saals, des neuesten Berliner Konzerthauses. Baekhoej ist gross und blond, freundlich und unkompliziert, so wie man sich Dänen vorstellen mag. «Gehen wir einen Tee trinken», schlägt er gleich vor und zwar in der Foyer-Bar des neuen Konzerthauses. Serviert wird Tee aus frischem Ingwer mit ebenso frischer Minze. Das verbreitet gleich einen leicht orientalischen Duft. Und dies nicht ganz zufällig. Die Bar wird von jungen Leuten aus dem Nahen Osten betrieben. Denn der Boulez-Saal ist ein Projekt von Daniel Barenboim, der in diesem Gebäude auch die Barenboim-Said-Akademie untergebracht hat, wo junge Musiker vor allem aus dem Nahen Osten ausgebildet werden.
Die Gründung des West-Eastern-Divan-Orchestra im Jahre 1999 durch Daniel Barenboim und den Palästinenser Edward Said war ein erster Anlauf, zu zeigen, dass gemeinsames Musizieren durchaus friedenstiftend sein kann. Die Barenboim-Said-Akademie an der Französischen Strasse, hinter der Staatsoper unter den Linden, soll nun ein weiterer Schritt zur musikalischen Völkerverständigung sein.
Und wo musiziert wird, braucht man einen Saal. Da es aber schade wäre, diesen Saal nur zum Üben zu gebrauchen, konzipierte man ihn gleich zum Konzertsaal. Zum Pierre-Boulez-Saal. Und dieser Saal ist nun so ungefähr das, was Luzern nicht bekommen hat: eine «salle modulable», der sich allen Anforderungen anpasst. Entworfen von Star-Architekt Frank Gehry zum Nulltarif, aus Freundschaft zu Barenboim.
Musik für das denkende Ohr
«Der Saal bringt etwas, das Berlin bis jetzt nicht hatte», sagt Intendant Ole Baekhoej. «Ich bin überzeugt, dass der Pierre-Boulez-Saal zu einer Referenzgrösse werden wird, an der zukünftige Kammermusiksäle gemessen werden, vor allem, wenn es um intime Konzerterlebnisse wie Soloabende oder Streichquartette geht». Während Baekhoej dies sagt, huscht Daniel Barenboim durchs Foyer in den Saal hinüber. Er probt gerade Schuberts Klaviersonaten, die in einem mehrtägigen Zyklus aufgeführt werden. Daneben sollen aber auch ganz andere Musikrichtungen zum Zuge kommen: Orientalisches, Jazz, Gesprächskonzerte… «Musik für das denkende Ohr», wie es das Motto des Saales verspricht.
«Jetzt geht es darum, ein künstlerisches Profil zu etablieren», sagt Baekhoej. Als erster Intendant freut er sich sehr auf diese Aufgabe. Erfahrungen bringt er dafür bereits vom Mahler Chamber Orchestra mit, wo er Chief Executive war, bis Daniel Barenboim ihn für seinen Pierre-Boulez-Saal engagierte. Einem neuen Unternehmen den persönlichen Stempel aufzudrücken, das ist natürlich immer eine spannende Sache. Baekhoej hat mit Begeisterung zugesagt. Und nach den ersten Konzerten meint er jetzt: «Es ist einfach herrlich, dass der Saal so gut angekommen ist bei den Künstlern und beim Publikum.»
Und tatsächlich: Am Abend ist der Saal voll besetzt, sowohl unten im Parkett, wie auf den luftig im Oval schwebenden zwei Rängen. Eine Bühne gibt es nicht, der Flügel steht auf gleicher Ebene und zugleich mitten drin im Publikum. Fast familiär wirkt das. Man ist nah dran, wenn Daniel Barenboim die Schubert-Sonaten spielt. Die eine Hälfte des Publikums kann ihm auf die Finger schauen, die andere ins Gesicht. In der Pause wird der Flügel gedreht, so kommt niemand zu kurz. Und das Publikum dankt mit Bravo-Rufen und herzlichem Applaus, der sicher nicht nur Barenboim als Pianisten gilt, sondern auch als Dankeschön für seine Initiative zu verstehen ist.
Kultische Heimat
Jenseits des Alexanderplatzes, am Rosa-Luxemburg-Platz, steht das grosse, düstere Gebäude der Volksbühne. Seit dem Mauerfall war Frank Castorf dort Hausherr. Vorher hatte er sich bereits in der DDR einen Namen gemacht und auch an westlichen Theatern inszeniert. Seine teils ausufernden, mehrstündigen Inszenierungen und seine Kompromisslosigkeit haben dem Theater Kultcharakter verliehen. Dazu gehörten auch Regie-Kollegen, die mit gleicher Kompromisslosigkeit inszenierten wie Castorf, nur ganz anders… Christoph Marthaler zum Beispiel, oder auch Christoph Schlingensief. Nach 25 Jahren, so hatte es die Stadt Berlin beschlossen, soll hier nun ein Wechsel stattfinden. Und Frank Castorf hatte sich zu fügen.
In einem Interview mit der ZEIT kommentierte er diesen Entscheid vor zwei Jahren in der ihm eigenen Zuspitzung folgendermassen: «Es gibt ein grosses Interesse in Berlin daran, dass ich aufhöre. Im Alten Testament heisst es: Sie sind weder heiss noch kalt. Ach wären sie doch heiss und kalt und nicht lau. Und Berlin ist nicht lau, aber cool geworden. Coolness ist nicht meine Temperatur. Daher ist dies vielleicht die rechte Zeit für Veränderungen. So ein Theater ist ja kein Erbhof.» Ein Erbhof nicht, aber doch mehr als eine Arbeitsstätte. «Die Volksbühne war eine kultische Heimat, die mir Schutz gegeben hat», meint er und ein bisschen Wehmut schwingt da wohl auch mit.
Als letzte Inszenierung hat er sich etwas durchaus «Kultisches» vorgenommen: Goethes «Faust». Und damit setzt er einen Schlusspunkt, der kaum mehr zu überbieten ist. Allein schon von der Länge her. Sieben Stunden dauert die Aufführung. «Nehmen Sie sich etwas zu essen und zu trinken mit», rät die freundliche Dame an der Kasse, denn in der einzigen Pause, die es gibt, seien die Schlangen am Buffet sehr lang. (An den Toiletten übrigens auch). Dass die Vorstellungen trotzdem total ausverkauft sind, versteht sich fast von selbst.
Sieben Stunden pralles Theater
Wenn man die Volksbühne betritt, ist es wie eine Zeitreise zurück in die DDR: die von Castorf bemäkelte coolness hat hier (noch) nicht Einzug gehalten. Und die Plastik-Schalensitze im Zuschauerraum lassen einen höchst unbequemen Abend befürchten. Unbequem ist er dann auch. Denn Castorfs «Faust» ist harte Arbeit. Für Schauspieler und Publikum. Und gleichzeitig eine theatralische Abenteuerreise voller Spannung und Exotik. Wieder für Schauspieler und Publikum. Castorf geht sehr frei um mit Goethe, aber immer wieder wird Faust im Originalton gesprochen auf der Bühne, problemlos integriert in den übrigen Text. Darf man das? Ja, sagt Frank Castorf. Und warum soll man das auf die Bühne bringen? «Weil man mit dem Faust machen kann, was man will», schreibt er im Programmbüchlein. «Bei Goethe findet sich für jede Interpretation eine Begründung. Das Wort `Fragment` habe ich nirgends so oft gelesen wie bei Goethe. Es macht die Türen auf zur Welt und saugt alles auf, was um ihn herum passiert.“ Das Büchlein trägt übrigens den Titel «Wie man ein Arschloch wird» und einer der Beiträge über «Kapitalismus und Kolonialismus“ stammt vom St. Galler Wirtschaftswissenschaftler Hans Christoph Binswanger, der sich bereits vor dreissig Jahren in seinem Buch «Geld und Magie“ mit Goethes «Faust» beschäftigt hat.
Nach Castorf’scher Manier spielt dieser «Faust“ auf offener Bühne, aber auch in einem Gebäude auf der Bühne. Was dort abgeht, wird durch Video auf einen Bildschirm projiziert. Grell, bunt, laut ist alles, manchmal auch düster, begleitet von viel Musik, Rockmusik insbesondere. Sieben Stunden sind lang, aber man schaut nie auf die Uhr. Es sind sieben Stunden pralles Theater, nichts Verhärmtes. Man mag vielleicht nicht alle Gedankengänge verstehen, die Castorf durch den Kopf gegangen sind. Egal. Dieser «Faust» ist kein Abschied durch die Hintertür. Es ist das Ende einer Aera. Frank Castorf hat noch mal aus dem Vollen geschöpft und sagt jetzt «tschüss Berlin».