Chinas Staats-, Partei- und Militärchef Xi Jinping hat auf seiner Europareise (Italien, Frankreich, Monaco) mit seinem Entwurf einer «Neuen Seidenstrasse» Politiker, Diplomaten und China-Experten aller Denominationen einmal mehr aufgeschreckt. Seit der Pragmatiker Xi 2013, durchaus im legitimen wirtschaftlichen Eigeninteresse Chinas, im grösseren Zusammenhang seines «grossen Chinesischen Traums» einer Wiedergeburt der Chinesischen Nation das Seidenstrasse-Projekt lanciert hatte, schrillten von den USA bis nach Europa alle Alarmglocken.
BRI
Xi nannte in Anknüpfung an die über zweitausend Jahre alte Seidenstrasse sein neues Lieblingsprojekt «Gürtel-und-Strasse-Initiative» oder auf Neudeutsch «Belt and Road Initiative», kurz BRI. Auf Chinesisch ist die Initiative mit «Yidai Yilu» noch treffender definiert, nämlich «Ein Band» oder «Ein Gürtel» und «Eine Strasse». Damit sind die Seidenstrassen gemeint, die seit über zweitausend Jahren Güter, Ideen und Krankheiten über zehntausend Kilometer von Ost nach West und von West nach Ost über die eurasische Landmasse transportieren. Chinas strategisches Interesse an «Yidai Yilu» liegt vor allem im Energiesektor – Erdöl, Erdgas, Kohle – als auch in andern natürlichen Ressourcen.
Freiherr von Richthofen
Den Ausdruck «Seidenstrassen» hat übrigens kein Chinese erfunden. Es war vielmehr im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, auf dem Höhepunkt des westlichen Imperialismus und Kolonialismus, der deutsche Geograph und Kartograph Ferdinand Freiherr von Richthofen, der den Begriff in seinem monumentalen, fünfbändigen Werk «China» geprägt hat. Er benutzte bewusst den Begriff «Seidenstrassen» im Plural und gab ihm die Bedeutung, die er seit Beginn noch heute hat: Die Seidenstrassen zu Lande, also auf dem riesigen eurasischen Kontinent und die Seidenstrassen zu Wasser, also auf dem Meer vom Ost-Chinesischen Meer über den Indischen Ozean bis hin zum Mittelmeer.
Siebzig Länder
Die von China angedachte «Neue Seidenstrasse» umfasst sechzig Prozent der Weltbevölkerung und vierzig Prozent der weltweiten Wirtschaftsleistung. Rund siebzig Länder entlang der Handelsroute sind betroffen. Gebaut und erneuert werden sollen Eisenbahnen, Strassen, Brücken, Tunnels, Häfen, Pipelines, Flughäfen, Kraftwerke und auch Universitäten. Von Peking bis Rom, von Laos bis Marokko, von Chongqing bis Duisburg, von Moskau bis Korea, von der Taklamakan Wüste in China bis zu den Steppen Zentralasiens und der Wüste Nordafrikas oder von Fuzhou bis Rotterdam. Dank neuer und verbesserter Infrastruktur solle der Warenaustausch und mithin die Wirtschaft der an der Seidenstrasse liegenden Ländern verbessert und ausgeweitet werden.
Auch die auf der Seidenstrasse seit Hunderten von Jahren in beiden Richtungen ausgetauschten Ideen und Werte könnten wieder mit höherer Intensität geteilt werden. Im 21. Jahrhundert könnten im Gegensatz zu früheren Zeiten auch die über die Seidenstrassen verbreiteten Epidemien – im 5. und 14. Jahrhundert zum Beispiel die verheerende Ausbreitung der Beulenpest – effizient verhindert werden.
Höhen und Tiefen
Die Seidenstrassen hatten seit dem Ende des zweiten Jahrhunderts vor unserer Zeit Höhen und Tiefen. Je nach geschichtlicher Konstellation verlief der Handel flüssig oder kam teilweise ganz zum Erliegen. Bis kurz vor dem Ende des weströmischen Reiches im vierten Jahrhundert und der chinesischen Han-Dynastie (206 vor bis 220 nach unserer Zeit), dann während der chinesischen Tang-Dynastie (618–907) oder der chinesischen Song-Dynastie (960–1279) sowie der chinesisch-mongolischen Yuan-Dynastie (1271–1368) blühte der Austausch von Gütern und Ideen. Ein berühmtes Beispiel: die Zahl Null und ein verfeinertes Dezimalsystem erreichte den Westen, von Indien her kommend und von arabischen Gelehrten vermittelt.
Neue Blüte
Während der chinesischen Ming-Dynastie (1368–1644) wurden die Seefahrten von Admiral Zheng He berühmt. Siebenmal durchpflügten in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts Hunderte von Schiffen mit bis zu 28’000 Mann Besatzung das Ost-Chinesische und das Süd-Chinesische Meer, die Strasse von Malakka, den Indischen Ozean bis hin zur Ostküste Afrikas. Die drei Schiffchen von Christoph Kolumbus oder ein Jahrhundert später die spanische Armada sind damit verglichen Kleinst-Flotten.
Nach der Mitte des 15. Jahrhunderts liess der Kaiser all die technisch hochwertigen Schiffe sowie deren Baupläne vernichten. Damit riegelte China die Zugänge zum Meer und mithin nach aussen ab und wandte sich mit dem Ausbau der Grossen Mauer gegen Norden, um das Eindringen der Steppenvölker abzuwehren. Eines dieser Steppenvölker, die Mandschuren, löste 1644 die Ming-Dynastie ab und verhalf China und den Seidenstrassen zu neuer Blüte.
Seide
Zu Beginn der Seidenstrassen war Seide das meist gehandelte Gut. In Rom, so bemerkte Seneca etwas abschätzig, werde im Mittelmeerraum das weiche, «fast durchsichtige» Tuch in «immer grösseren Mengen» gekauft und getragen. Die Seide war bald aber nicht nur ein begehrtes Handelsgut, sondern neben Münzen und Getreide auch ein Zahlungsmittel. Über die Jahrhunderte entwickelte sich die Luxusware Seide zur verlässlichsten Währung.
Eigeninteressen
Heute werden Handelsrechnungen natürlich mit harten Dollar, Euro und immer mehr auch mit chinesischen Yuan Renminbi beglichen. Das gilt auch für die Investitionen in die Neue Seidenstrasse. Es ist das grösste Investitionsprojekt seit dem Marshallplan in Europa 1948 (900 Milliarden Dollar), also eine durchaus zukunftsorientierte, positive Strategie. Das chinesische Finanzierungsmodell von rund 1,1 Billionen US-Dollar bis in die Jahre 2030 bis 2040 läuft über den Seidenstrassen-Fonds sowie über die Asiatische Infrastruktur-Investmentbank, die von über sechzig Staaten, darunter der Schweiz, finanziert wird. China sorgt dabei diskret aber kompromisslos dafür, dass Peking das Sagen hat.
Deshalb mehren sich in Europa und Amerika die Stimmen, die dem Reich der Mitte zu Unrecht dubiose oder gar unlautere Absichten unterstellen. China handelt jedoch wie Amerika, Frankreich, Deutschland oder auch die Schweiz stets in wohlverstandenem Eigeninteresse, bislang immer in Absprache mit der internationalen Gemeinschaft.
Machtanspruch?
Seit Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping die BRI-Initiative 2013 lanciert hat, mehren sich besorgte Fragen aus dem Westen. Gefragt wird etwa: Will China einen weltweiten Machtanspruch ausbauen? China mit der Neuen Seidenstrasse zur globalen Macht? Oder wie Spiegel-Online es vor zwei Jahren formulierte: «Es geht um Chinas Ruhm und Einfluss – also um Geopolitik». Als Italien als erstes G7-Land mit China eine Absichtserklärung (Neudeutsch Memorandum of Understanding) unterzeichnete, titelten Zeitungen düster: «Italien – Einfallstor der Chinesen in Europa?».
Keine Geschenke
Bislang ist klar, dass chinesische Bau-, Stahl- und Transportunternehmen bei öffentlichen Ausschreibungen von Seidenstrassen-Projekten den Löwenanteil ergattern. Einheimische Firmen kommen allenfalls beschränkt, internationale Unternehmen kaum zum Zuge. Kommt dazu, dass China auch keine neuen Arbeitsplätze in den betreffenden Staaten schafft: Chinesische Bauarbeiter übernehmen den Job. Chinas Kredite sind keine Geschenke, nicht einmal Darlehen mit weichen Bedingungen. Es sind vielmehr Kredite mit marktüblichen Zinsen oder gar leicht erhöhten Zinsen.
Weisser Elefant
Deshalb fordert die internationale Gemeinschaft und vorab Europa transparente Ausschreibungen mit Umwelt- und Sozialauflagen sowie transparente Finanzierung. Für viele Staaten entlang der Neuen Seidenstrasse ist nämlich das Verschuldungsrisiko hoch. Sri Lanka hat das beispielsweise mit dem Tiefseehafen Hambatota erfahren mit dem Resultat, dass China eine Lizenz auf 99 Jahre gewährt werden musste, weil die Schulden nicht mehr bedient werden konnten. Auch Sri Lankas von China finanzierter internationaler Flughafen Matala ist ein weisser Elefant.
Schuldenfalle
Malaysia hat ein Hochgeschwindigkeitszug-Projekt wegen zu hoher Kosten vorerst abgesagt. Selbst das mit China eng befreundete Pakistan hat den Bau eines Staudamms abgesagt. Vietnam hat sich bezüglich des Baus einer Hochgeschwindigkeitseisenbahn zwischen Hanoi und Ho-Chi-Minh-Stadt (Saigon) schon gar nicht auf Gespräche eingelassen. Die Schuldenfalle droht bereits jetzt von Pakistan, Dschibuti, Kirgisien über Laos, die Malediven, Montenegro oder Tadschikistan bis hin zu Mozambique, Laos und Papua Neuguinea.
«Europäische Naivität»
Die Europäer haben beim Besuch von Chinas Staatspräsidenten Xi Jinping die Neue Seidenstrasse zwar grundsätzlich begrüsst, aber einige entscheidende Vorbehalte zum Ausdruck gebracht. Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron sagte: «Das Zeitalter der europäischen Naivität ist vorbei.» Nach europäischer Auffassung ist China ein Wirtschaftskonkurrent auf der Suche nach technologischer Führerschaft. Die Europäische Union (EU) sieht China jetzt als «Systemrivalen», moniert unfaire Wettbewerbspraktiken und fordert gleichwertigen Marktzugang in China sowie transparente öffentliche Ausschreibungen in China und auf der Neuen Seidenstrasse, so wie es in Europa für China üblich sei.
«Nicht servil»
Selbst Schweizer Politiker sind auf den Seidenstrassen-Hype aufgesprungen und verlangen jenseits aller Sachkenntnis grossspurig eine «China-Strategie». In der Freiburger Zeitung «La Liberté» gab der Schweizer Botschafter in Peking, Jean-Jacques de Dardel, schon einmal etwas diplomatisch-verschroben den Tarif durch: «Wir werden uns nicht servil China andienen. Wir wollen versuchen, China nach unseren Werten, Erkenntnissen und unseren komparativen Vorteilen zu beeinflussen.»