„Und? Wird es gut?“ frage ich Christian Jost, während wir unter der Bühne des Zürcher Opernhauses zwischen Werkzeug, Besen, Turnschuhen und Kulissenresten vom Bühneneingang zum Foyer durchmarschieren. Eigentlich etwas unfair, den Komponisten ein paar Tage vor der Uraufführung seiner neuesten Oper diese Frage zu stellen… aber Christian Jost nimmt’s locker. „Die Hochrechnungen sehen ganz gut aus und sind vielversprechend…“ flachst er.
Keine Chinoiserie
Christian Jost hat Erfahrung mit Uraufführungen. Er ist jetzt 51 Jahre alt, lebt vor allem in Berlin und die „Rote Laterne“ ist bereits seine achte Oper, von anderen Musikwerken mal ganz abgesehen. Ein bisschen Lampenfieber verursacht ihm die „Laterne“ natürlich trotzdem. „So viele Uraufführungen kann man gar nicht machen, dass dies irgendwann zum Alltag würde. Ich bin da schon sehr emotional dabei.“ Letztlich kämen bei einer Uraufführung so viele Unwägbarkeiten zusammen, auf die er keinen Einfluss habe. „Das kostet mich schon im Vorfeld die eine oder andere Nacht“.
„Rote Laterne“, das klingt nach Ferne, nach China, fremd und geheimnisvoll, ein bisschen exotisch auch. Aber um all das geht es Christian Jost nicht. Eine „Chinoiserie“ soll die „Rote Laterne“ nicht sein, obwohl der Anstoss durchaus von dort kommt. Und zwar in Form des vielfach preisgekrönten Films „Die Rote Laterne“ des chinesischen Regisseurs Zhang Yimou. „Als ich den Film vor rund 25 Jahren zum ersten Mal sah, dachte ich schon, das könnte auch ein Opernstoff werden.“
Ein Stoff wie geschaffen für die Oper
Jahre später las er den Roman von Su Tong, auf dem der Film beruht, und sah, dass man den Stoff auch anders anpacken kann. „Für die Bühne war es mir wichtig, etwas zu kreieren, das nicht den chinesischen Aspekt betont.“ Jost schwebt eine entrückte Welt vor, in der Äusserlichkeiten unwirklich sind. Eine Welt, die dadurch Möglichkeiten eröffnet, die Figuren in ihrem Wesen ganz tief auszuloten. „Ich habe sehr griffige Personen auf der Bühne, mit denen sich das Publikum in hohem Masse identifizieren kann, was – wie ich finde – die Grundlage für einen starken Opernstoff ist.“
In der „Roten Laterne“ geht es um eine junge Frau, die als vierte und jüngste Gattin in eine traditionelle chinesische Familie verheiratet wird und dort an den rückständigen Verhältnissen zugrunde geht. Die Geschichte handelt von weiblichem Begehren und gesellschaftlichem Zwang, von Traumvisionen, emotionaler Selbstbestimmung, Herrschsucht, Missgunst, Eifersucht und Tod. Fürwahr: ein Stoff, wie geschaffen für die Oper, für Drama und Emotion.
Christian Jost hat die „Rote Laterne“ nicht nur komponiert, sondern er hat auch das Libretto geschrieben. Wer hat sich denn da bei der Arbeit wem unterwerfen müssen? Verlangt der Komponist vom Librettisten, sich anzupassen, oder umgekehrt? „Ach, das lässt sich gar nicht trennen…“ sagt er und beschreibt dann seine Arbeitsweise. „Wichtig ist erst einmal, dass mich ein Stoff für längere Zeit, also drei oder vier Jahre, so richtig packt. Das heisst, die Charaktere, die ich auf die Bühne stellen will, müssen so vielschichtig und so spannungsgeladen sein, dass sie mich nicht loslassen. Dann schreibe ich zuerst das Libretto, aber im Hinterkopf klingt die Musik schon ganz deutlich, vor allem im Bereich der Gesangsstimmen.“
Zwei Jahre hat diese Arbeit gedauert. Nun muss die „Rote Laterne“ sich auf der Bühne und in der Praxis bewähren. Dem französischen Dirigenten Alain Altinoglu, der die Produktion musikalisch leitet, sind Besonderheiten aufgefallen, erzählt Christian Jost. „Er sagte mir, es sei ungewöhnlich, dass ich bei den Texten teilweise sehr gedehnt phrasiere. Dadurch entsteht ein sehr vokaler, kantilenenhafter Duktus, der für die Sänger sehr gut ist. um ein grosses Legato zu gestalten, ohne auf jeden Konsonanten achten zu müssen, damit es verständlich ist. Oder kurz gesagt: Ich brauche viel weniger Text als ein anderer Komponist.“
Affinität zu China
Hätte es ihn nicht interessiert, sein Werk auch selbst zu dirigieren? „Doch, ja, natürlich“, sagt er spontan, um dann einzuräumen, dass ein anderer Dirigent auch Vorteile hat. „Alain Altinoglu macht das phantastisch und es funktioniert hervorragend, weil er so dirigiert und korrigiert, wie ich es auf der Probe auch gemacht hätte. Wir sitzen sozusagen zu zweit am Pult und hören mit vier Ohren, was da im Orchestergraben und auf der Bühne passiert und das ist optimal!“
Zwischendurch ändert Christian Jost auch Kleinigkeiten. „Das grosse Ziel ist es, einen surrealen Raum für dieses Stück zu kreieren. Wenn es im Libretto einen Satz gibt, der einen als Zuhörer in die Realität zurückwirft, dann wird das geändert. So etwas fällt einem beim Schreiben manchmal gar nicht auf und man merkt es erst bei der Realisierung auf der Bühne.“
Auch wenn Christian Jost alles getan hat, um die Geschichte nicht allzu chinesisch werden zu lassen, hat er doch eine starke Affinität zu China. Seit Jahren pendelt er zwischen Berlin und Taiwan, wo er „composer in residence“ ist. Er hat auch in Shanghai und Peking bereits gearbeitet und er lernt Chinesisch. „Im letzten Sommer war ich vier Monate in meiner Wohnung in Taipeh und habe komponiert. Ich brauchte einfach eine andere Umgebung um mich herum. In der Partitur hört man diesen Tapetenwechsel allerdings nicht.“
„Lover“
Es fliessen also keine Anklänge an chinesische Musik in seine Kompositionen ein? „Nein. Zumindest keine, die belegbar wären im Sinne von Zitaten oder Clichés, wie etwa dem übermässigen Gebrauch von Pentatonik, also Fünftonmusik, wie sie in China gebräuchlich ist.“ Aber indirekt gibt es vermutlich doch Einflüsse. „Ich habe mit dem Taiwan National Symphony Orchestra gearbeitet, ich habe dort verschiedene Studentenorchester aufgebaut und geleitet und ich betreue in Taiwan seit ein paar Jahren ein Percussion Ensemble und ein Tanztheater.“
Diesen zwei Ensembles hat Jost im vergangenen Jahr in Berlin noch ein drittes beigefügt: den Rundfunkchor Berlin. Mit allen Beteiligten hat er das Stück „Lover“ zu seiner Musik auf die Bühne gebracht. „Die Kombination aus all dem herzustellen und aus den Schlagzeugern ein Orchester zu machen und das Ganze dann auch noch zu dirigieren, das war mit enormer Kraftanstrengung verbunden, aber es war ein tolles Abenteuer!“, schwärmt er. Und er geht demnächst mit „Lover“ auf Tournee. Rhythmus, Schwung und Elan, die Christian Jost aus diesem Projekt mitnehmen konnte, fliessen nun sicher in die „Rote Laterne“. Auch ohne chinesischen Anklang.
Christian Jost ist ein zeitgenössischer Komponist und schreibt folglich zeitgenössische Musik. Die aber hat es schwer beim Publikum. Warum eigentlich?
„Tja, da ist sicher in der Vergangenheit auf allen Seiten viel schief gelaufen“, so Jost. „Einerseits schimpft die Neue-Musik-Szene aufs Publikum und wirft ihm vor, sich nicht mit dieser Musik auseinandersetzen zu wollen, und das Publikum schimpft auf der anderen Seite auf die Komponisten und sagt, können die nicht mal was schreiben, das wir verstehen…. .“ Dafür hat Christian Jost durchaus Verständnis. Er sieht sich selbst als mitteilsamen Menschen, auch musikalisch. Sein Ziel ist es, dem Publikum Geschichten zu erzählen, die spannend sind und innovativ. Und er geht noch einen Schritt weiter: „Ich verspreche, dass niemand, der eine Oper von mir besucht, gelangweilt aus der Veranstaltung geht. Mir ist wichtig, dass das, was auf de Bühne dargestellt wird, authentisch ist, dass es sich um authentische Emotionen dreht.“
Emotion und Sinnlichkeit
Nur über die Emotion, über die Sinnlichkeit könne man das Publikum erreichen, sagt Jost. Anders gehe es überhaupt nicht. „Die sinnliche Komponente wurde über Jahre in der zeitgenössischen Musik komplett ausgeklammert. Das habe ich schon als Kind nicht verstanden. Das ist so, als wenn ich die Sonne von der Erde wegnehme. Die Sinnlichkeit macht doch einen grossen Teil der Faszination von Musik, Theater, Kunst und Oper aus! Wir kümmern uns viel zu wenig darum, den sinnlichen Anteil so subtil, so geschmackvoll und so spannungsgeladen wie möglich herzustellen. Stattdessen denken wir darüber nach, wie man den Alltag möglichst von seiner absolut hässlichsten Seite zeigen könnte“.
Christian Jost ereifert sich zu Recht. „Ich glaube, im Bereich des klassischen Repertoires haben wir das Theater zu Tode interpretiert. Wir brauchen neue Stoffe, wir brauchen neue Stücke. Aber diese neuen Stoffe und Stücke müssen die Tradition des Theaters weiterführen. Ich glaube, nur so kann die Oper überleben.“ Er sagt das mit tiefer Überzeugung, denn seine Liebe zur Oper ist ungebrochen. Aus einer Opernvorstellung trunken von Musik, Sinnlichkeit und Emotion heraustaumeln. So stellt er sich Oper vor. „Es ist so ein Wunder, dass dies über den Gesang funktioniert, dass uns eine Stimme mit zwei, drei Tönen komplett in ihren Bann zieht. Das ist doch das Grösste, was es gibt.“
Und während er dies sagt, gehen wir wieder zum Bühnenausgang. Vorbei am leeren Zuschauerraum. Eine Tür steht halb offen. Man sieht Arbeiter auf der Bühne. Und man hört eine Frau singen. Irgendwo hinter den Kulissen. Ganz allein. Wunderschön.
Christian Jost strahlt.