„Ittingen ist ein unglaublich schöner Ort“, schwärmt sie und lässt den Blick aus dem Café hinaus schweifen in den Dauerregen, der an diesem Tag in Zürich fällt. Graziella Contratto rührt ihren Grüntee um und wenn sie weiterredet von der Kartause, dann sieht man den Rosengarten vor sich und man würde schwören, sogar vom Duft der Rosen betört zu werden, man spürt die ganze Atmosphäre dieser ehemaligen Klosteranlage im Thurgau. Und dies alles, weil Graziella Contratto an diesem tristen Regentag geradezu schwelgt in der Beschreibung der Schönheiten Ittingens.
Mit Ittingen verbindet sie dieses Jahr aber mehr als nur der Rosengarten. Es ist die Musik. Natürlich, sie ist schliesslich Dirigentin. Eine der wenigen Frauen in diesem Metier. Und die Ittinger Pfingstkonzerte finden dieses Jahr unter ihrer Leitung statt. Dirigieren steht nicht im Vordergrund, den Takt gibt sie aber trotzdem an: sie hat das Programm zusammengestellt und die Künstler ausgewählt.
Lustwandeln
Es ist ein kleines Festival mit grossen Vorgängern. Heinz Holliger und András Schiff waren es, die vor zwanzig Jahren anfingen, zu Pfingsten in der Kartause Konzerte zu veranstalten. Dieses Jahr gibt es nun einen Generationenwechsel, mit Graziella Contratto. „Ich habe mich riesig gefreut über die Anfrage“, sagt sie. „Am liebsten kuratiere ich ein Festival an einem Ort, der selbst schon Charisma hat.“ Zwanzig Jahre, wie ihre Vorgänger, wird sie es nicht machen. Das neue Konzept der Stiftung Kartause Ittingen sieht einen jährlichen Wechsel in der Leitung vor.
„Ich finde, dieser Ort schreit geradezu danach, praktisch überall bespielt zu werden. Natürlich in der Remise und in der Kirche, wie bisher, aber auch im Garten, im Weinkeller, in einer Mönchsklause…Für den Weinkeller habe ich den jungen Medienkünstler Leo Hofmann beauftragt, eine Mischung aus Raumspektakel, Installation und Schlafwandlertum zu kreieren und das Publikum mit einzubeziehen“. Nicht ganz zufällig lautet der Untertitel der diesjährigen Pfingstkonzerte: „Lust / WANDEL /n“. Und da steckt schon alles drin: die Lust, der Wandel, das Wandeln.
Blind Date im Kloster
Graziella Contratto hat eine jüngere Generation von Künstlern nach Ittingen eingeladen, die zum Teil aber auch Alte Musik spielen. Nicht alles soll umgekrempelt werden, aber Neues soll das Bisherige bereichern. „Meine Generation, also die zwischen vierzig und fünfzig, ist es auf Grund der wegwelkenden bürgerlichen Werte nicht gewohnt, dass das Publikum ganz selbstverständlich an Konzerte strömt. Wir müssen vermitteln und kommunizieren und uns überlegen, was Zuschauer heute attraktiv finden.“ Am liebsten hätte sie es natürlich, wenn das bisherige Publikum weiterhin käme und sich mit einem neuen, jüngeren mischen würde. „Trotzdem: es gibt ein ‚Blind Date‘,“ meint sie und wirkt dabei nicht allzu skeptisch, sondern eher hoffnungsvoll. „Und die Eintrittspreise sind auch günstiger…“ Das sagt sie mit einem grossen Strahlen im Gesicht.
Blick zurück auf 1912
Und wie sieht ihr Programm aus? „Es dreht sich um das Jahr 1912. Da ist Kaiser Wilhelm II. nach Ittingen gekommen. Extra für den Kaiser hat man damals in der Kartause das erste Wasserklosett installiert“, lacht Graziella Contratto. So etwas Neumödiges gab es vorher dort nicht, aber die Geschichte ist in die Annalen eingegangen. „1912 war auch das Jahr von ‚Pierrot lunaire‘, der Komposition von Arnold Schönberg. Richard Strauss hat seine Josephslegende komponiert, der Raumfahrtpionier Wernher von Braun ist geboren worden und dann gibt es ein Kinderbuch mit dem Titel ‚Peterchens Mondfahrt‘ und wenn man das übersetzt, kommt man wieder zu ‚Pierrot lunaire‘….und bei der Raumfahrt an.“ Graziella Contratto sprudelt nur so und alles, was sie aufzählt, findet irgendwie und irgendwo Niederschlag in ihrem Ittinger Pfingstprogramm.
Und dirigieren wird sie gar nicht? Da könnte das Publikum doch enttäuscht sein… „Meinen Sie..?“ fragt sie ganz erstaunt zurück. „Hat mir das Publikum nicht lieber bei Ursus und Nadeschkin zugeschaut…?“ Das natürlich auch. Das Programm „Im Orchester graben“ mit dem Komiker-Duo Ursus und Nadeschkin zusammen mit Graziella Contratto war ein Riesenhit in den vergangenen Jahren. Jetzt möchten die Zuschauer die „Comedy-Dirigentin“ vielleicht auch einmal als „richtige“ Dirigentin erleben. „Also das letzte Konzert in Ittingen dirigiere ich“, räumt sie ein, „das ist Mahlers vierte Sinfonie in einer Fassung für Kammermusikensemble“. Na also, zum Abschluss also doch noch die Dirigentin Contratto bei den Pfingstkonzerten der Intendantin Contratto.
Dirigieren, ein Metier
Hauptberuflich ist Graziella Contratto seit fünf Jahren Leiterin des Fachbereis Musik an der Hochschule der Künste in Bern, sieben Jahre lang hat sie zusätzlich das Davos Festival „young artists in concert“ geleitet, am „Musiksommer“ rings um den Zürichsee ist sie beteiligt, im Radio SRF2 hört man sie in der „Diskothek“ über verschiedene Plattenaufnahmen diskutieren und zuhause hat sie auch noch eine kleine Tochter und einen Ehemann. Wie schafft sie das alles? „Also die meisten Tätigkeiten sind ja näher beieinander als man denkt. Aber ich dirigiere momentan weniger. Der Hochschulbetrieb fordert mich ziemlich stark, denn dort habe ich vor allem mit Administration und Management zu tun, ich doziere dort nicht.“ Aber fehlt ihr denn das Dirigieren nicht? „Die Tatsache, dass ich sehr gern guten Dirigenten zusehe und zuhöre, zeigt mir, dass alles in bester Ordnung ist, also keine Frustration, sondern ein Perspektivenwechsel. Meine intensivste Dirigierperiode verbrachte ich zudem in Frankreich. Zuerst in Lyon als ‚chef résident‘, dann als Chefdirigentin beim Orchestre des Pays de Savoie.“
„Dirigieren ist ein Metier, das man auch eine Zeitlang ruhen lassen kann, um dann später wieder intensiv einzusteigen. Das ist nicht wie bei einem Instrument, bei dem man immer in Uebung bleiben muss. Aus Respekt vor dem Metier habe ich mir gesagt, dass ich jetzt wegen der anderen Tätigkeiten mit dem Dirigieren etwas kürzer trete. In zwei oder drei Jahren sieht es vielleicht wieder anders aus.“
Dirigieren ist aber auch ein Metier, das Graziella Contratto Managern beibringt. Managern? „Ja, Managern, Unternehmern, CEO, Teamleitern, beim Militär, bei der Feuerwehr, im Spital oder wo auch immer.“ Seit über zehn Jahren leitet sie schon solche Workshops und das überrascht doch. „Da geht es um Führungsfragen und darum, was man von einem Dirigenten lernen kann, wenn man selbst vor einer Gruppe von Experten steht, die man leiten soll.“ Das sei eigentlich genau die gleiche Situation wie zwischen Dirigent und Orchester. „Sehr oft muss ich ja dem Orchester gegenüber erklären, wie ich mir eine bestimmte Phrase wünsche. Aufgrund einer Art, sagen wir… Verschwiegenheitsklausel würde ein Instrumentalist aber nie zu mir sagen, dann spiel es mir doch selber vor. Aber er hat das Anrecht auf eine klare Kommunikation und einen starken Gestaltungswillen meinerseits, der ihn überzeugt. Wie es von jeder Führungspersönlichkeit erwartet werden muss. Da geht es um natürliche Autorität. In der Soziologie spricht man heute von ‚autoritativ‘, nicht mehr von ‚autoritär‘, das klingt zu sehr nach 19. Jahrhundert. Und ‚antiautoritär‘ hat auch versagt.“ Also autoritativ soll es heute sein. Das heisst: eher Coach oder Motivator, um das Beste aus den Leuten rauszuholen, nicht Diktator.
Dirigieren, eine Disziplin
„Dirigieren ist eine Disziplin, in der man lernt, sich ruhig hinzustellen, sich ins Zentrum zu bringen, eine gute Verwurzelung zu haben, nicht herum zu zappeln, nicht um Sympathie zu gieren, nicht auf oberflächliche Gefühle zu setzen, sondern einfach dort zu stehen und klar zu kommunizieren.“ Und das lernen Führungspersönlichkeiten, indem man ihnen einen Taktstock in die Hand gibt und sie vor ein Orchester hinstellt. „Ich bringe ihnen erst ein paar Basics bei, dann dürfen sie das Ensemble dirigieren. Da merkt man schnell, wer eine natürliche Ausstrahlung hat und Klarheit im Auftreten.“
Natürliche Ausstrahlung und Klarheit im Auftreten, das sind letztlich auch die Qualitäten, die ihr nun die Leitung der Ittinger Pfingstkonzerte eingebracht haben. Und ihre Musikalität selbstverständlich. Für sie selbst ist es momentan noch eine Wundertüte, aber ihr Enthusiasmus und ihre Freude an den Konzerten werden sich bestimmt aufs Publikum übertragen.