Ich fahre mit der U-6 nach Garching. Ein edler BMW fährt vor. „Willkommen in München“, sagt er. Und braust mit mir davon.
Kaum ein Schweizer Schauspieler stand so oft auf der Bühne und vor der Kamera wie er. Seine Fernsehserien waren die ersten wirklichen Strassenfeger. Der „schöne Mann aus Basel“ wurde verehrt, vergöttert und mit Liebesbriefen überhäuft. Sein schmales, aristokratisches Gesicht wurde zur Legende. Am 29. September feiert er in München seinen 99. Geburtstag.
„Graf Yoster gibt sich die Ehre“ – so heisst die Fernsehserie, mit der Lukas Ammann in den Sechziger- und Siebzigerjahren zur umschwärmten Kult-Figur wurde. Über 70 Folgen wurden realisiert. Gedreht wurde in richtigen Schlössern. Zum Einsatz kam ein richtiger Rolls Royce, der einem richtigen Frauenmörder gehörte. Die Serie brachte dem Fernsehen Quoten, die heutige Produzenten erbleichen lässt.
Doch Lukas Ammann war mehr als Graf Yoster. Er war vor allem Theaterschauspieler, Kabarettist, Regisseur; er inszenierte Ballette und gewann in Locarno einen Leoparden. Mit weit über 80 Jahren wurde er noch einmal zur Kult-Figur. In der Fernsehserie „Die Fallers“ spielte er den Bauern. Als er mit 88 Jahren aufhören wollte, verlangte das Publikum in einer Petition die Fortsetzung der Serie. Von den „Fallers“ wurden 249 Folgen gedreht.
„Werden sie noch auf der Strasse erkannt?“
„Ja, kürzlich war ich in Basel in einem Trämli. Ein Trampassagier sagte mir: Ich fahre jetzt extra noch eine Station weiter, damit ich mit ihnen etwas plaudern kann“.
Der 99jährige Skyper
Heute lebt Lukas Ammann in einer Art Schlösschen, das zu einem Jagdrevier gehörte. Eine faszinierende Wohnung tut sich auf: dicke Teppiche, alte Wanduhren, wunderbare Möbel, frische Blumen, stimmungsvolle Bilder, überall Fotos aus einem langen Leben. Der Hausherr, raffiniert und tadellos gekleidet, bewegt sich darin wie ein erhabener Edelmann. Eines der aufgestellten Schwarz-weiss-Fotos zeigt ein sehr schönes Gesicht: Seine Frau, ein langjähriges Ensemblemitglied am Münchner Staatstheater am Gärtnerplatz, ist vor zwei Jahren an Krebs gestorben. Sie war 70. Seither wohnt er allein in seinem Reich.
Doch Lukas Ammann ist keineswegs nur Nostalgiker, der von seinen grossen Zeiten erzählt. Er hat einen neuen Laptop gekauft. Täglich surft er etwa zwei Stunden im Netz. Mehr noch: Seine zwei Söhne und seine Enkel wohnen in Uruguay. Mit ihnen skypt er.
Göring und Goebbels im Publikum
Jetzt kommt er in Fahrt und erzählt von früher. Seine Mutter stirbt als er sechs ist. Sein Vater ist Kunstmaler. Im Stadttheater Basel sieht er Schillers „Räuber“. Franz Moor fasziniert ihn so, dass er sich sagt: „Den will ich auch einmal spielen“. Doch sein Onkel will, dass er Geologie studiert. Nebenbei nimmt er Schauspielunterricht und lernt Alfred Rasser und Ettore Cella kennen. Schliesslich geht er nach Berlin, wo er zwar noch an der Geologie schnuppert – vor allem aber die Schauspielschule besucht.
Mit 20 Jahren darf Ammann im Deutschen Theater in Berlin erste kleine Rollen spielen. Pro Abend kriegt er fünf Mark, viel Geld für ihn. Es ist die Zeit, in der die Nazis an die Macht drängen. Direktor des Theaters ist ein Chemiker. Er wurde Direktor, weil er Nazi ist. Eines Abends wird Wilhelm Tell gespielt und im Publikum sitzen Göring und Goebbels. In der Szene, in der das Volk die Burgen schleift, stürmen Nazi-Anhänger auf die Bühne und entrollen die Hakenkreuz-Flagge. Heiri Gretler, der in dem Stück Pfarrer Rösselmann spielt, sagt nach der Vorstellung: Morgen sind wir nicht mehr da. Beide, Gretler und Ammann, flüchten in die Schweiz.
Hier will das Zürcher Schauspielhaus Lukas Ammann engagieren: für 150 Franken im Monat. Doch am Theater in St. Gallen bietet man ihm das Doppelte, und so geht er nach St. Gallen, wo er fast acht Jahre bleibt.
Das St. Galler Theater – „verseucht von Nazis"
Wieder holen ihn die Nazis ein. „Das Theater war verseucht von Nazis“, sagt Ammann. Er, dessen Mutter eine Jüdin ist, stellt mit Schrecken fest, dass auch in St. Gallen der Direktor des Theaters ein Nazi. Mit andern Mitgliedern des Hauses geht der Direktor abends ins deutsche Konsulat. Einmal sagte er: „Es ist gut, dass nächstens ein anderes Gericht hier Recht spricht“. Ammann stellt fest, dass ein Mitglied des Ensembles in Deutschland einen Kollegen denunziert hat. Ammann ruft die politische Polizei, die will den Denunzianten sofort verhaften. Doch der Theaterdirektor fleht die Polizei an; er habe keinen Ersatzschauspieler für die heutige Premiere, er möge doch nur heute Abend noch spielen dürfen. So spielt er denn - und ausgerechnet Lukas Ammann muss auf der Bühne seinen Freund spielen. Nach der Vorstellung wird der Denunziant am Ausgang verhaftet. Dann erfährt die Polizei, dass auch der Direktor ein Nazi ist. Er wird entlassen.
1941 kommt Ammann ans Zürcher Schauspielhaus. Gleichzeitig wird seine erste Ehe geschieden. Schliesslich geht er zurück nach Deutschland, wo er in München zum Ensemble des Theaters „Kleine Freiheit“ gehört und dieses massgebend mitprägt. Dann heiratet er erneut. Und dann kommt das Fernsehen.
Da wimmelt es von schönen Frauen und reichen Herren
Und dann kommt vor allem Graf Yoster. „Sie wollten zunächst den Schauspieler Adolf Wohlbrück engagieren“. Dieser lebte damals in London und war schon ein Star. „Doch Wohlbrück war zu teuer“. Auch mit einem zweiten Kandidaten klappt es nicht. So erhält Ammann die Rolle, die ihn im deutschen Sprachgebiet zum Fernsehhelden küren wird.
Zusammen mit seinem Diener und vorbestraften Chauffeur löst der aristokratische Amateurdetektiv Yoster Kriminalfälle, die sich in der High Society abspielen. Da wimmelt es von schönen Frauen und reichen Herren. Der Diener wird von Wolfgang Völz gespielt. „Weder Völz allein, noch ich allein hätten diesen Erfolg gehabt“, sagt heute Ammann. „Nur durch den Kontrast von uns beiden kam der Erfolg“. Und: „Wenn ich mir heute diese Filme anschaue, wundere ich mich, dass sie überhaupt Erfolg hatten. Ich finde sie ein bisschen läppisch“.
Die über 70 Folgen von „Graf Yoster“ werden nicht in Studios, sondern in verschiedenen Schlössern gedreht. Bei einem Dreh im Hafen von Neapel versagt der Motor des einen Rolls Royce. Mit einem Seil muss er heraufgezogen werden. Dann wird dem Rolls - welche Schmach - ein Opel-Motor eingebaut. Bei Dreharbeiten in Paris wird einem andern Rolls alles gestohlen, was Chrom hat: das Reserverad, der Chromdeckel des Reserverades, die Kühlerfigur.
In London wird schliesslich ein weiterer gebrauchter Rolls gekauft. Vorne am Wagen gibt es – noblesse oglige – ein kleines Kästchen, in dem Visitenkarten reingesteckt sind. „Wir fanden eine erste Visitenkarte und dahinter noch eine“, erzählt Ammann. Diese zweite Karte war die Visitenkarte eines bekannten Frauenmörders, eines Londoner Serienmörders. „Ihm hatte unser Rolls Royce gehört“.
Der Bauer mit den aristokratischen Händen
Graf Yoster bringt Ammann nicht nur Vorteile. „Die Serie war mein Untergang beim Fernsehen“. Vorerst zumindest. Sein Gesicht ist derart mit diesem Kult-Yoster identifiziert, dass man ihm keine weiteren Rollen gibt. „Bavaria Film, die diese Serie produzierte, hat mich nie wieder beschäftigt“.
Doch 16 Jahre später kommt das Fernsehen wieder. Da bietet man ihm die Hauptrolle in der Serie ‚Die Fallers‘ an. „Ich sollte einen Bauern spielen, ausgerechnet ich mit meinen schmalen Händen. Das kann ich nicht, dachte ich, und sagte ab“.
Zwei Wochen später kommen zwei Herren aus Baden-Baden. Man einigt sich auf Probeaufnahmen und Ammann sagt schliesslich zu, nach gutem Zureden seiner Frau. Erst im Jahr 2000, mit 88 Jahren, hört er auf. „Es gab eine Palastrevolution, man bot mir eine höhere Gage, man redete auf mich ein, man zeigte mir die Petition des Publikums. Doch irgendwann ist genug“.
Noch tritt Amman in einem Tatort auf. Mit 92 Jahren spielt er die Hauptrolle in Micha Lewinskys Film „Herr Goldstein“, der beim Filmfestival in Locarno als bester Schweizer Kurzfilm ausgezeichnet wird. „Dann hörte ich auf“. Seinem Lebenswerk steht er kritisch gegenüber: „Zufrieden war ich vielleicht in 30 Prozent, vollkommen zufrieden höchstens in fünf Prozent.“
Die heutigen Fernsehserien – „miserabel“
Heute ist es einsamer um Lukas Ammann geworden. „Mit 99 hat man nicht mehr viele Freunde“. Die beste Freundin seiner Frau sei sehr krank und befinde sich im Altersheim. Die zweite Jugendfreundin seiner Frau ist demenzkrank. Doch Ammann resigniert nicht. „Der ganze Tag ist ausgefüllt. Ich bin um sechs Uhr wach, hole mir die Zeitung und lese bis um sieben, dann schlafe ich noch eine Stunde. Dann überlege ich mir, was am Vortag vor sich ging und was dieser neue Tag bringt.“
„Gehen Sie oft ins Kino“ „Nein“
„Was halten Sie von den heutigen Fernsehserien?“ „Langweilig und miserabel. Ich mag diese Brutalität nicht.“
Etwas traurig zeigt er ein Foto von seinem sechsjährigen Sohn. Kurz nach der Aufnahme dieses Bildes im italienischen Urlaub fiel er von einem Balkon und starb. Die Symbolik wollte es, dass dieses letzte Foto auch das letzte Foto auf der Zelluloid-Filmrolle war und deshalb abgeschnitten ist.
Das Essen lässt sich Lukas Ammann meist kommen. Zwei Mal pro Woche fährt er zum Italiener. „Der kennt mich und serviert mir, was ich liebe“. Doch oft kommt Frau Kienlin und kocht für ihn. Die Familie Kienlin ist der Anker in seinem jetzigen Leben.
Der hundertste Geburtstag? – „Damit rechne ich nicht“
Mit den Kienlins sind die Ammanns seit 27 Jahren befreundet. „Meine Frau hat vor ihrem Tod Frau Kienlin gebeten, sich um mich zu kümmern, wenn ich allein bin“. Trotz ihrer riesigen Familie „tut sie das grossartig, Gott sei Dank“. Max von Kienlin ist Schriftsteller. Er verfasste unter anderem das Buch „Die Überschreitung, Günther Messners Tod am Nanga Parbat“.
Die Kienlins sind es auch, die ihn zum 99. Geburtstag in ihre Wohnung zum Essen einladen. „Dass mir niemand ein Geschenk bringe. Jemandem mit 99 etwas zu schenken, ist ja Unsinn“. Und: „Wenn ich etwas brauche, kaufe ich es mir – und wenn ich es nur noch drei Tage gebrauchen kann“.
„Und wie feiern sie den hundertsten Geburtstag?“
„Damit rechne ich nicht“.
„Wenn Sie wünschen könnten, welche Rolle möchten Sie jetzt noch spielen?“
„Den Grossinquisitor in Don Carlos oder den Attinghausen im Tell“.
„Wenn heute ein Telefon käme und ihnen eine Rolle anböte…“
„Das würde ich mir zwei Tage überlegen“.
„Wie steht es um die Gesundheit?“
„Vielleicht bin ich todkrank, aber ich nehme es nicht zur Kenntnis. Ich fühle mich gut“.
Nach dem Gespräch fährt er mich zur U-Bahn-Station zurück. Wir sprechen über sein Auto. „Das ist ein Fünfer-BMW“, sagt er. „Ich hatte immer solche. Jetzt gibt es ein neues Modell. Aber dieses kaufe ich mir jetzt nicht mehr“. Wieso eigentlich nicht, denke ich. Der Mann strotzt vor Gesundheit und Klarheit. Vor dem Bahnhof lässt er mich aussteigen. Und braust davon. Wie ein Italiener.