In der Geschichte der Technik kann man immer wieder beobachten, wie ganz neuartige Entwicklungen sich in der Formgebung und Ergonomie an dem orientierten, was sie ersetzen sollten. Das berühmteste Beispiel dafür ist das Auto, dessen erste Modelle noch stark an Pferdekutschen erinnerten. Betrachtet man unter diesem Gesichtspunkt digitale Kameras, so erschliessen sich Glanz und Elend des technischen Fortschritts in überraschender Weise. Man sieht förmlich, wie die Techniker und Marketingleute mit der Vergangenheit ringen, sie manchmal brutal hinter sich lassen, ihr aber auch nachtrauern, als wollten sie noch einmal die Ritter der Tafelrunde zu Tisch bitten.
Wo das Massenpublikum an den Tisch gebeten wird, müssen die Produkte billig und leicht zu bedienen sein. Handy- und Pocketkameras erfüllen diese Anforderung, wobei letztere gemessen an ihrer Grösse und ihrem Preis sogar verblüffende Qualität liefern können. Wer diese Kameras nutzt, wird in aller Regel nicht an analoge Vorgängermodelle denken, wobei auch hier die Ausnahme die Regel bestätigt. So baut Minox verschiedene Klassiker der analogen Fotografie digital en miniature nach, darunter eine Leica M3, die Rolleiflex und die klassische („Spionage“-) Minox. Das ist aber eher eine Spielerei.
Mit neuer Technik punkten
Kleinheit und Einfachheit bilden eine logische Einheit. Man kann sich damit vollauf begnügen, muss es aber nicht. Wer will, kann schon bei den Kameras der Smartphones einige Einstellungen von Hand vornehmen. Und Einfachheit heisst nicht, dass die Automatiken simpel sind. Vielmehr lassen sie sich auf die jeweiligen Motive einstellen, also Landschaft, Porträt, Nacht, unter Wasser etc.
Ein Teil der Kompaktkameras, also die nächst grösseren Brüder und Schwestern der Pockets, folgt ganz dieser Linie. Einige Hersteller möchten aber auch anspruchsvollere Kunden erreichen, die zum Teil noch durch die analoge Fotografie geprägt worden sind. Die Handhabung sollte sich also an den analogen Vorgängern orientieren. Auf der anderen Seite wollen die Hersteller mit den neuesten technischen Möglichkeiten punkten. Immer wieder spürt man den Widerstreit dieser beiden Imperative. Wer also ein Pendant zu seiner guten alten analogen Kamera sucht, nur eben digital umgerüstet, der wird sich an vielen Dingen stossen. Ihm werden ständig Features aufgedrängt, nach denen er nie verlangt hat. Und auf der anderen Seite passen Bedienelemente nicht mehr zusammen, die sich früher miteinander gut vertragen haben.
Leicas Revolution
Leica bietet dafür besonders eindrückliche Beispiele. Leica – vielleicht ringt kein zweiter Hersteller derartig mit der Vergangenheit, um sich in der Gegenwart zu platzieren. Die Leica-M-Modelle waren jene Kameras, die auf ihre Weise vor bald 100 Jahren eine Revolution ausgelöst und ganz neue Massstäbe für die Fotografie gesetzt haben. Die Revolution bestand darin, dass der Feinmechaniker Oskar Barnack auf die Idee kam, die 35-mm-Filme, die in den Studios der UFA oder in Hollywood genutzt wurden, als Ausgangsmaterial für seine Fotos zu verwenden.
Aus dieser Idee entstanden kleine Kameras von einzigartiger mechanischer Präzision, Objektive von enormer Lichtstärke und Genauigkeit und eine Art zu fotografieren, die mit ihrer Leichtigkeit und Präsenz alles in den Schatten stellte, was man bis dahin mit den unhandlichen Plattenkameras erreicht hatte. Leica - das wurde nicht nur ein Begriff für die Bewunderer von Henri Cartier-Bresson, Robert Capa und in neuerer Zeit von Barbara Klemm – um nur diese drei aus einer grossen Zahl von Fotografen zu nennen. Diese Fotografen schufen mit „ihrer“ Leica Bilder, die zu Klassikern der Moderne wurden. Zudem war Leica der Traum aller, die in einer Kamera ein Juwel sehen konnten.
Universalgenie mit Fragezeichen
Aus 150 Einzelteilen besteht allein der Messsucher einer Leica M. Jedes Teil ist von grösster Präzision und wurde von Spezialisten in Handarbeit montiert. Aus dieser Perspektive erschien die neue digitale Fotografie bzw. deren Apparate als peripheres Phänomen. Entsprechend spät hat sich das Unternehmen auf die neuen Entwicklungen eingestellt und nur knapp sein Überleben sichern können. Aber entsprechend radikal tritt es jetzt auf.
Mit Modellen wie der Pocketkamera V-Lux 20 orientiert sich Leica am Massenmarkt. Im Begleittext heisst es, dass „auch weniger erfahrene Fotografen das intuitive Bedienen der Kamera“ schätzen werden. Daneben gibt es eine sogenannte Bridge-Kamera, die V-Lux 2, in der Leica-Werbung bescheiden als „Universalgenie auf allen Distanzen“ bezeichnet. Bridge-Kameras bilden die „Brücke“ zwischen den Kompaktkameras und den Spiegelreflexkameras mit Wechselobjektiven. Ihre Objektive sind aber fest eingebaut.
Der Haken von Leicas Bridge-Kamera besteht nun darin, dass das Objektiv, das umgerechnet auf das Kleinbildformat einen Brennweitenbereich von 25 bis 600 Millimetern abdeckt (Lichtstärke von 1:2,8 – 5,2) eben so wenig höhere Ansprüche an Abbildungsqualität erfüllen kann wie der CMOS-Bildsensor mit einer Grösse von 1/2,33 Zoll, was 9 x 6,75 mm entspricht. Damit liegt Leica allerdings genau im Bereich der Konkurrenzmodelle, die ebenfalls mehr auf Masse als auf Klasse abgestellt sind.
Auf den zweiten Blick Unverträglichkeit
Orientierung am Massenmarkt statt an einer Qualität, für die der Name Leica einmal gestanden hat: Das markiert einen scharfen Lernprozess und zeigt, wie sehr sich der Wind gedreht hat. Der Preis von knapp über 1100 CHF bestätigt diesen Eindruck. Und als sollte das Ganze noch parodiert werden, stellt Leica im hauseigenen „Courrier“, der Kundenzeitschrift, das gleiche Modell als Produkt der Firma Lumix unter der Typenbezeichnung Lumix FZ100 vor – mit einem Preis, der deutlich günstiger ist. Die Tradition des eigenen Kamerabaus wie die Orientierung an dem, was man als Markenstolz bezeichnen könnte, spielt bei diesen Produkten absolut keine Rolle mehr.
Andere Angebote von Leica orientieren sich stärker an der Markentradition. Die kompakte D-Lux 5 liefert gemessen an Grösse und Preis eine wunderbare Qualität. Zudem wurde sie mit einem Steckschuh ausgestattet, an dem ein Sucher befestigt werden kann. Somit kann man die D-Lux wie eine herkömmliche Kamera ans Auge halten. Der aufsteckbare Sucher ist elektronisch und übermittelt digital die Sicht des Objektivs. Die Freude daran wird aber in der praktischen Handhabung sogleich nachhaltig getrübt. Denn der aufsteckbare Sucher verhindert, dass die Kamera in die wunderbar praktische und auch schöne Bereitschaftstasche von Leica passt. Und was ist, wenn man einen externen Blitz verwenden will? Dann muss man auf den Sucher, der „besonders bei schwierigen Lichtverhältnissen zum Einsatz“ kommt – Leica Werbung – wieder verzichten.
Dieser Widerspruch fällt auf den ersten Blick nicht auf, ist aber in der praktischen Handhabung lästig. Darin unterscheidet sich die D-Lux 5 von Leica nicht von ähnlichen Modellen anderer Hersteller – also nicht nur von dem gleichen Modell, das man unter der Bezeichnung Lumix LX5 deutlich günstiger erwerben kann .... Daneben gibt es die Olympus E-PL1 in anspruchsvollem Design. P steht für Pen und soll an die Tradition der Halbformatkamera Pen von Olympus erinnern, die zu einer der am längsten produzierten Kamerareihen überhaupt gehörte.
Orientierung an der Tradition
Am Problem, eine kompakte Kamera mit Sucher zu bauen, scheitert neben Leica, Lumix und Olympus auch Sony mit der NEX-5, die dank ihres grossen Sensors von 23, x 15, 6 mm mit 14 Megapixel den semiprofessionellen Spiegelreflexkameras den Rang ablaufen könnte. Aber da diese Kamera extrem klein sein soll, hat sie nur ein Display, keinen Sucher. An einen Aufstecksucher denkt Sony derzeit nicht. Man muss also das Scharfstellen am Display verfolgen, wobei dieses im Moment des Drehens am Einstelllring des Objektivs einen vergrösserten Massstab bietet, also auf den Scharfstellpunkt zoomt. Die Wirkung von Schärfe und Unschärfe in der Bildkomposition lässt sich auf diese Weise ganz sicher nicht beurteilen.
Neben den Mainstreamkameras und der D-Lux 5 gibt es bei Leica auch andere Entwicklungen, die man nur aus der Leica-Tradition heraus verstehen kann. Da gibt es die X1, eine Kamera, deren Grundform an die M erinnert. Ihr Objektiv hat eine Brennweite, die einem 35mm-Objektiv im Kleinbildbereich entspricht, also dem klassischen Reportageobjektiv. Die technische Ausstattung und der Preis wecken hohe Erwartungen. Ganz offensichtlich sollen mit der X1 Kunden angesprochen werden, die immer noch im Bann der guten alten Leicas stehen. Aber auch diese Kamera hat nur ein Display, keinen eingebauten Sucher. Anders ist es mit der digitalen Leica M9, die explizit an den Erfolg der M-Reihe anknüpft, aber sehr viel klobiger wirkt. Das ist nicht ohne Risiko. An diesem Problem ist die Leica M5 Anfang der 70er Jahre gescheitert. Bei der M9 kommt der hohe Preis erschwerend hinzu, der die Frage nach der Konkurrenzfähigkeit wie von selbst provoziert.
Lächeln-, Zwinkern-, Gesichtserkennung
Vor diesem Hintergrund weckt die ziemlich dreiste Kopie der Leica M durch Fuji, die im nächsten Frühjahr vergleichsweise preisgünstig unter der Bezeichnung Fujifilm Finepix X100 in die Läden kommt, funktional noch am konsequentesten, auch wenn man fragen kann, was eine solche Kamera ohne Wechselobjektive soll. - Das Anknüpfen an überkommene Kameraformen ist also auch mit erheblichen Nachteilen verbunden.
Immer wieder stösst man auf Ungereimtheiten. Bedienungs-möglichkeiten, die die früheren Kameras problemlos unter einen Hut brachten, gibt es nur eingeschränkt. Dafür werden andere Leistungsmerkmale angepriesen: „Lächeln-, Zwinkern-, Gesichtserkennung“, Serienaufnahmen mit mehreren Bildern pro Sekunde, damit verbunden das automatische Entfernen von störenden Personen bei touristischen Motiven, Full-HD-Video, um nur die am häufigsten genannten Eigenschaften zu nennen. Warum z.B. Serienaufnahmen? Damit, wie es in der Werbung heisst, auch der „weniger geübte Fotograf“ immer den optimalen Moment findet. Sollen diese Kameras also den „guten Fotografen“ überflüssig machen?
Ein eigenes Thema sind die Spiegelreflexkameras, die eine Bandbreite von der Anfängerfotografie bis in den professionellen Einsatz bieten. Auch hier wird sich zeigen, dass neben herausragenden Eigenschaften, die man nur begrüssen kann, einige Nachteile die Ambivalenz technischen Fortschritts plastisch vor Augen führen.