Krieg, Katastrophen und Gewalt prägen unser Leben im Alltag – und auf der Bühne. So auch im Zürcher Opernhaus mit einer anspruchsvollen Produktion und einem aussergewöhnlichen Regisseur.
Diesmal ist er persönlich in Zürich: der russische Regisseur Kirill Serebrennikov. Er inszeniert Alfred Schnittkes Oper «Leben mit einem Idioten». Ein schwieriges Stück. Ein drastisches Stück. Ein faszinierendes Stück.
Seine erste Arbeit am Zürcher Opernhaus ist es allerdings nicht: 2018 hat Serebrennikov hier eine hinreissende Inszenierung von Mozarts «Cosi fan tutte» gemacht, sehr zeitgenössisch, sehr frech und sehr charmant. Mozart vom Feinsten. Allerdings: Damals stand Serebrennikov in Moskau wegen angeblicher Veruntreuung öffentlicher Gelder unter Hausarrest. Regie führte er in Zürich nur über Video, Internet, Telefon und E-Mail, und über seine Assistenten, die in Zürich realisierten, was Serebrennikov sich in Russland ausgedacht hatte. Und das funktionierte hervorragend.
Nun also ein russisches Stück. Es geht um einen Schriftsteller, «Ich» genannt, der Wowa, einen Idioten, bei sich aufnehmen soll. Das geht zunächst gut, nur sprechen mag der Idiot nicht. Stattdessen scheisst er plötzlich auf den Teppich und mit der Ruhe im Haushalt ist es vorbei. Stattdessen Gewalt. Leidenschaft und Anarchie. Uraufgeführt wurde das Stück 1992 in Amsterdam. Schnell wurde der «Idiot» auf Lenin bezogen und das Stück als Parodie auf das Leben in der Sowjetunion angesehen. So eng wollte es aber schon der russisch-deutsche Komponist Alfred Schnittke nicht sehen. Ausdrücklich wies er darauf hin, dass es in seiner Oper «auf keinen Fall allein um den Kommunismus» gehe, sondern um einen allgemeinen Zustand, in dem «das Irrationale das Rationale beherrscht».
Punk Rock oder Anti-Oper
Kirill Serebrennikov kommt von der Probe, wir sitzen in einem kleinen, nüchternen Raum, nebenan übt jemand Klavier. Serebrennikov: gross, mit Dächlikappe und freundlich. Wie geht es ihm hier in Zürich? «Es läuft recht gut auf den Proben, alle sind sehr auf ihre Arbeit fokussiert. Ich liebe die Atmosphäre hier im Haus. Das liegt wahrscheinlich an Andreas Homoki. Er ist selbst Regisseur und weiss, was wir brauchen, um Theater auf hohem Niveau machen zu können. Es ist ein Vergnügen hier zu arbeiten.» Und wie ist es, nach «Cosi fan tutte» dazu gekommen, «Leben mit einem Idioten» hier zu inszenieren? «2016, als wir noch ‘Cosi fan tutte’ besprachen, hat Homoki ‘Leben mit einem Idioten’ erwähnt und ich habe sofort ‘Ja’ gesagt … Ich kenne das Stück schon aus meiner Jugend und habe es noch in der sowjetischen Realität erlebt! Es war absoluter Punk-Rock … crazy …! Es ist eine Art Anti-Oper, das war zu jener Zeit echte Avantgarde.»
Serebrennikov stand noch nicht unter Hausarrest, als er mit Homoki über den «Idioten» sprach und Krieg herrschte auch noch nicht. Ganz langsam begannen die Vorbereitungen und Serebrennikov schlug vor, statt des russischen Original-Textes die deutsche Übersetzung zu verwenden, um es verständlicher zu machen. «Da ging es um die Realität des Stücks. Post-sowjetische Realität ist aus dem vergangenen Jahrhundert. Heute versteht niemand mehr, um was es geht. Mein Vorschlag war, es in unsere Zeit zu verschieben, es richtig zeitgenössisch zu machen. Die Musik ist sehr flexibel, sehr offen für jede Interpretation. Das weiss ich von Schnittke, der in seinem Tagebuch schreibt: Die Oper soll auf verschiedene Art interpretiert oder inszeniert werden können. So ist also jeder Ansatz aus Sicht des jeweiligen Regisseurs willkommen. Für mich funktioniert es mehr oder weniger wie ein Thriller.» Mit Zensur – wie die NZZ suggeriert hatte – haben diese Änderungen also gar nichts zu tun? «Nein!!! Überhaupt nicht …!» betont Serebrennikov ausdrücklich. Es sei auch nicht Lenin, um den es in dem Stück gehe, aber natürlich könne man es so interpretieren, wenn man will. Oder Putin? Serebrennikov winkt vehement ab. «Wenn man etwas über Putin machen will, muss man ganz direkt sein. Krieg, Kriminalität, für diese schrecklichen Dinge müssen wir keine Oper aufführen. Da darf es nicht metaphorisch oder intellektuell sein, da muss man ganz direkt sein.»
Krieg hier, Krieg dort, Krieg überall
In einer Welt voller Kriege soll diese Oper also universell sein und sich nicht auf Russland beschränken? «Das ist meine Absicht. In dieser Oper geht es um Gewalt. Gewalt in der Familie, Gewalt in der Gesellschaft, Gewalt im Allgemeinen. Wir leben in einer ständigen Atmosphäre von Gewalt. Auch hier in Zürich, in diesem angenehmen, leichten, entspannten Leben, selbst hier spürt man die Gewalt ringsherum. Kriege: hier, dort … alle zur gleichen Zeit – und jemand greift zum Messer und tötet einen anderen. Es ist wie vor einem Erdbeben, da beginnen Tiere, sich merkwürdig zu verhalten. Wahrscheinlich ist es bei den Menschen genauso.»
Neben diesem atmosphärisch Bedrohlichem gibt es aber auch die Musik, von der Serebrennikov sehr angetan ist. «Sie ist komplex, berührend und provozierend. Gleichzeitig gibt es ein paar wunderschöne Passagen und wir haben auch noch Teile neu beigefügt. Man pendelt also hin und her zwischen Wohlklang und ziemlich brutalem Gesang. Dies zu singen, ist unglaublich schwer. Es ist für mich ein Riesenvergnügen, mit allen zusammenzuarbeiten. Ich habe ein künstlerisches Interesse daran und natürlich ist es für mich auch ein Statement über das Leben, das wir heutzutage führen. Diese Oper gibt uns die Möglichkeit, unsere Ängste auszudrücken, unsere Sehnsüchte, unsere Gedanken.»
Und was soll das Publikum von dem Abend mitnehmen? «Dass wir uns gegenseitig lieben müssen. That’s it. Nichts weiter. Keine Gewalt. Mehr Liebe.»
Und er selbst? Wie geht Serebrennikov auf die bevorstehende Premiere zu? Bei seiner letzten Premiere im September mit seiner sehr eigenwilligen Inszenierung von Verdis «Don Carlo» an der Wiener Staatsoper hat er einen Buh-Sturm über sich ergehen lassen müssen. «Da bin ich abgehärtet … ich weiss, dass diese Art von Opern-Aufführung rar ist. Rar für uns, die wir daran arbeiten und rar für die anderen im Zuschauerraum. Wir sind also auf beiden Seiten in einer ähnlichen Situation. Aber es ist wichtig, Oper nicht als Routine-Unterhaltung anzusehen, sondern als etwas, das wir heute ganz besonders brauchen, um auszudrücken, was wir fühlen. Sonst geht die Oper unter. Deshalb liebe ich die Leidenschaft, die alle, die an der Oper ‘Leben mit einem Idioten’ mitarbeiten, im Herzen haben. Ihre Augen strahlen. Ich sehe ihr grosses Interesse, ihre Begeisterung. Buhs können mir weder meine eigene Freude verderben, noch die gemeinsame Freude aller, die an dieser tollen Oper mitarbeiten.»
Eine echte Herausforderung
Und tatsächlich ist die Arbeit auch für die Sängerinnen und Sänger höchst anspruchsvoll. «Diese Rollen zu lernen, dauert länger als ein Jahr. Susanne Elmark hat ihre Rolle vor zwanzig Jahren schon einmal gesungen, aber auf Schwedisch. Jetzt musste sie es auf Deutsch noch einmal neu lernen. Für Bo Skovhus als Schriftsteller ‘Ich’ ist die Rolle total neu und ebenso für Matthew Newlin, den ‘Idioten’. Es dauert rund anderthalb Jahre, so eine Rolle einzustudieren. Eine echte Herausforderung.»
Um den Kopf zu lüften und sozusagen als Kontrastprogramm ist Kirill Serebrennikov während seiner Zeit in Zürich aber auch anderweitig kulturell unterwegs. «Ich habe alle Museen gesehen. Ich liebe das Landesmuseum, für mich eines der coolsten Museen überhaupt. Ich war auf der Rigi mit dem unglaublichen Rundblick, ich war in Basel in Ausstellungen und habe Christoph Marthaler getroffen und mich mit ihm unterhalten. Ich war in Zürich auch im Café Odeon, denn ich liebe Dada und unsere Oper ist in gewisser Weise auch dadaistisch … Wir nutzen diesen Zugang einer dadaistisch surrealistischen Kombination von Einzelteilen, die zusammengesetzt werden können.» Und dann gibt es in der Zürcher Altstadt auch noch das Haus, in dem Lenin gelebt und seine Revolution vorbereitet hat. Hat Serebrennikov sich das auch angesehen? «Nein», sagt er sehr dezidiert, «da bin ich kein Fan. Er lebte hier und kam dann in meine Heimat und zerstörte das Land.»
Kirill Serebrennikov lebt inzwischen in Berlin. Nach Russland kann er vorerst nicht zurückkehren. «Aber seit mein Vater gestorben ist, habe ich auch keinen Grund mehr, hinzufahren.»
Alfred Schnittke
«Leben mit einem Idioten»
Opernhaus Zürich
Premiere: 3. November 2024