Als sich die siebenköpfige Jury des Schweizer Fotopreises Mitte Januar nach getaner Arbeit abends im Holländerturm in Bern zum Essen traf, war Anja Niedringhaus guter Dinge. Die AP-Fotografin hatte allen Grund dazu. Sie hatte vor Jahresende in Afghanistan dem Tod ein Schnippchen geschlagen, als ein Fahrzeug der Bundeswehr, in dem sie abziehende Soldaten begleitete, auf einen ferngezündeten Sprengsatz fuhr und in die Luft flog.
Scheinbar verschont
Der Wagen überschlug sich, landete aber wie durch ein Wunder auf vier Rädern. Anja Niedringhaus blieb unverletzt, von ein paar Kratzern und Quetschungen abgesehen. Die Fotografin schien, trotz zahlreicher Einsätze in Kriegs- und Krisengebieten, das Glück gepachtet zu haben, unverwundbar zu sein.
Umso unfassbarer nun die Meldung, dass Anja Niedringhaus am vergangenen Freitag in der Provinz Khost im Osten Afghanistans von einem Polizisten gezielt erschossen worden ist. Ihre AP-Kollegin Kathy Gannon wurde ebenfalls von Schüssen getroffen, überlebte aber.
Motiv unbekannt
Die 60-jährige Kanadierin wurde in ein Spital verbracht, aus dem sie die US-Army in der Folge zu evakuieren versuchte. Die Reporterinnen, beide mit jahrelanger Erfahrung im Lande, waren in einem bewachten Konvoi unterwegs, um über die Vorbereitungen zu den Präsidentenwahlen in Afghanistan zu berichten.
„Als sie in ihrem Autos sassen und auf die Abfahrt des Konvois warteten, kam ein Kommandant namens Naquibullah zu ihrem Wagen, rief ‚Allahu Akbar‘ (Gott ist gross) und eröffnete das Feuer auf sie auf dem Rücksitz“, meldete ein freier AP-Mitarbeiter, der den Anschlag in der Stadt Khost direkt miterlebte. Der Täter ergab sich in der Folge ohne Widerstand seinen Polizeikollegen, wurde festgenommen und verhört. Über sein Motiv ist noch nichts bekannt. Möglich, dass er im Auftrag der Taliban handelte.
Anschläge auf Journalisten
Zwar wiesen die Aufständischen jegliche Verantwortung für die Tat von sich. Doch hat es in Afghanistan wiederholt Fälle gegeben, in denen Taliban oder deren Sympathisanten Polizei- oder Armee-Einheiten infiltrierten, um Anschläge zu verüben. Auch haben die Regierungsgegner gelobt, jene anzugreifen, die sich an den Wahlen am Samstag beteiligten. In den vergangenen Wochen sind in Kabul wiederholt Wahlbüros attackiert worden.
Relativ neu in Afghanistan ist der Umstand, dass Militante gezielt Ausländer und Journalisten angreifen. Im März erschossen Unbekannte auf offener Strasse in Kabul den schwedisch-britischen Radiojournalisten Nils Horner. Vor zwei Wochen töteten Taliban in der Hauptstadt bei einer Attacke auf das schwer bewachte Hotel „Serena“ Serdar Ahmed, einen einheimischen Mitarbeiter der Agence France-Presse (AFP), sowie dessen Frau Humeira und zwei ihrer drei Kinder.
Die Frau des afghanischen Journalisten hatte zuvor die Angreifer vergeblich angefleht, nur sie zu töten und ihre Kinder zu verschonen. Doch die Taliban im Hotel kannten keine Gnade und massakrierten insgesamt neun Menschen. Seit 2001 sind in Afghanistan 19 Journalistinnen und Journalisten in Ausübung ihres Berufes umgekommen.
Überlebende
Ein Kollege Serdar Ahmeds erinnerte sich in der Folge an einen Dialog, den der AFP-Reporter auf Facebook gestellt hatte. „Baba, töten die Taliban auch Tiere?“, fragte die sechsjährige Nilofar ihren Vater. "Nein“, antwortete dieser. Worauf das Mädchen erklärte: „Ich wünschte, wir wären Tiere.“ Nilofar starb im „Serena“ mit ihrem fünfjährigen Bruder Omar im Kugelhagel der Taliban. Lediglich der zweijährige Abu Zar, von drei Schüssen getroffen, überlebte.
Was Serdar Ahmed einst während einer Autofahrt seinem Fotografenkollegen Shah Marai von der AFP sagte, könnte er auch zu Anja Niedringshaus gesagt haben. „Shah Marai“, meinte der 40-Jährige Journalist, “wir haben so viele Schlachten und Selbstmordattentate überlebt und darüber berichtet, dass es eine Riesenschande wäre, wenn wir Opfer einer feigen Attacke würden.“
Gastfreundschaft und Offenheit
Doch wie Serdar Ahmed ist auch Anja Niedringhaus nicht verschont geblieben in einem Land, in dem laut „New York Times“-Reporter Habib Zahori „Gewalt und Tod unsere ständigen Begleiter sind“. Er gebe in Afghanistan, sagt Zahori, kaum eine Familie, die im nicht enden wollenden Krieg nicht mindestens ein oder zwei Angehörige verloren hätte: „Sie sagen, das enorme Leid während Jahrzehnten des Krieges habe die Afghanen versteinern lassen. Das ist aber nur eine Wahrnehmung, nichts anderes. Wie unbeugsam wir auch immer zu sein meinen, wir können ebenfalls zerbrechen. Wir weinen, und wir weinen heftig.“
An Afghanistan faszinierten Anja Niedringhaus Wesenszüge, die es ihres Erachtens im Westen nicht mehr gibt – die Gastfreundschaft und die grenzenlose Offenheit der Menschen. Sie habe, erzählte sie letztes Jahr Absolventen der Deutschen Journalistenschule, oft bei Familien übernachtet, welche sie zwar nicht gekannt, ihr aber Schutz auf dem Boden angeboten hätten. Das habe sie jedes Mal überwältigt: „Kriegsfotografin zu sein, ist für mich mehr, als mich sieben Monate im Jahr von Schützengraben zu Schützengraben zu wälzen.“
Kein Rezept für gute Bilder
Anja Niedringhaus war keine Draufgängerin, die für ein gutes Bild Kopf und Kragen riskierte. Dafür war die Deutsche, die in Göttingen Germanistik und Philosophie studiert und für diverse Publikationen als freie Fotografin gearbeitet hatte, viel zu erfahren. Sie war, in den 90er-Jahren, für die European Press Photo Agency (EPA) auf dem Balkan gewesen und hatte mehrere Jahre in Sarajevo und Moskau gelebt.
2002 wurde sie, mit Sitz in Genf, Mitarbeiterin der Associated Press (AP), für die sie in der Folge im Nahen Osten, in Afghanistan und Pakistan unterwegs war. 2005 gewann Anja Niedringhaus mit einem Team von AP-Kollegen den Pulitzerpreis in der Kategorie „Breaking News“ für ihre Bilder aus dem Irak.
Helfen statt fotografieren
Es gebe, sagte die Fotografin damals in einem Interview mit SPIEGEL ONLINE, kein Rezept für gute Bilder vom Krieg. Sie zum Beispiel bewege sich nicht nur an der Front. Mehr würden sie die Menschen im Hinterland interessieren, wo der Krieg ebenso tiefe Spuren hinterlasse. Wobei es ihr schwer falle, während des Jobs Gefühle auszuschalten: „Im Kosovo etwa habe ich über Monate Flüchtlinge gesehen, die mit nichts an mir vorbeizogen. In solchen Momenten wollte ich lieber für ‘Ärzte ohne Grenzen‘ arbeiten.“
Es habe auch, erzählte Anja Niedringhaus im Gespräch, Momente gegeben, in denen sie, wie zum Beispiel in Sarajevo, ihre Kamera weggelegt habe: „Da habe ich Verletzte ins Krankenhaus gefahren, weil wir über die Vereinten Nationen noch an Sprit gekommen sind. Erst hinterher dachte ich: ‚Du hast ja gar keine Fotos‘.“
Dramatische Rettung
Die Pressefotografie wäre ärmer ohne ihre Bilder. „Anjas Fotografien“, sagt Santiago Lyon, Fotodirektor der AP, „sind in vielerlei Hinsicht eine unmittelbare Spiegelung ihrer Persönlichkeit: mutig, direkt, fürsorglich, mitfühlend und humorvoll.“ Die Bilder der Deutschen, so Lyon im Grusswort des Buches „At War“, erinnerten den Betrachter daran, „dass uns allen das Menschsein gemeinsam ist, unabhängig von sozialen und kulturellen Unterschieden, die oft zu extremer Gewalt führen.“
Anja Niedringhaus‘ humanitäre Ader äusserte sich auch darin, dass ihr die Menschen, über die sie berichtete, nicht gleichgültig waren. Am 4. Juni 2011 zum Beispiel fotografierte sie in der Nähe von Sangin in der afghanischen Provinz Helmand, wie US-Marineinfanteristen einen verletzten Kameraden zum Rettungshelikopter schleppen. Korporal Burness Britt war bei der Explosion eines Sprengsatzes verwundet worden, wobei ein grösserer Granatsplitter eine Halsader traf. Der 22-Jährige überlebte die Evakuation, erlitt aber während der ersten Notoperation einen Schlaganfall und blieb teilweise gelähmt.
Stille Bilder
Anla Niedringhaus spürte Burness Britt nach hartnäckigen Recherchen sechs Monate später in einem Militärspital in Richmond (Virginia) auf, um zu erfahren, wie es dem Korporal nach seiner Rückkehr in die Heimat ergangen war, und um ihm die Aufnahmen zu zeigen, die sie während der Evakuation im Helikopter gemacht hatte. Die Bilder aus dem Spital in den USA zeigen ein anderes Gesicht des Krieges, still, unspektakulär, fast intim, aber nicht weniger eindringlich.
Sie habe erst noch geglaubt, mit Bildern die Welt verändern zu können, hat Anja Niedringhaus bemerkt. Inzwischen wisse sie, dass das nicht möglich sei. Trotzdem hat sie weiter fotografiert, nicht nur in Kriegsgebieten, sondern zum Ausgleich auch an Sportstätten wie Wimbledon oder bei Olympischen Spielen – bei Anlässen, wo es ebenfalls darum geht, Situationen instinktiv zu erfassen und mit der Kamera rasch zu reagieren. Dabei war sie, hier wie dort, eine Fotografin alter Schule. Allen Möglichkeiten der digitalen Technik zum Trotz ist Anja Niedringhaus nie der Versuchung erlagen, das Glück zu korrigieren und ihre Bilder im Nachhinein zu bearbeiten.
Der Preis der Berufung
Das zeigte sich auch während jenes Abendessens in Bern, als unter den Jury-Mitgliedern von Swiss Press Photo unvermittelt Streit ausbrach über die Frage, ob zulässig es sei, Pressebilder am Computer zu retuschieren, und falls ja, in welchem Umfang. Anja Niedringhaus war unbestrittene Wortführerin jenes Lagers, das die Frage vehement verneinte. Fotografie war für sie nicht nur ein Job, sondern stets eine Berufung. Um dieser Berufung nachzukommen, hat die deutsche Kriegsfotografin, wie es jeweils reflexartig heisst, jetzt den höchsten Preis bezahlt.
Und am Ende noch ein Bild, das bleibt: In Yaftal-e-Sofia im Nordosten Afghanistan hat Anja Niedringhaus im September 2009 einen Bundeswehrsoldaten auf Langzeitpatrouille fotografiert, der frühmorgens allein auf einem Feld neben drei brennenden Kerzen sitzt und nachdenklich seinen 34. Geburtstag feiert. Wie das Zeugnis eines frohen Anlasses wirkt die leicht verschwommene Aufnahme nicht, eher wie das Dokument einer ahnungsvollen Totenwache. R.I.P. Anja Niedringhaus, 12. Oktober 1965 - 4. April 2014.