Zehntausende von Syrern verlassen ihre Dörfer und Städte. Die meisten fliehen vor Luftangriffen, die ihre Häuser zerstörten und Familienmitglieder töteten. Andere fliehen, um diesem Geschick zu entgehen, weil ihre Wohnstätten Ziele von Luftangriffen geworden sind. Die Hälfte dieser Flüchtlinge sind Kinder. Unter den Erwachsenen machen die Frauen den Hauptteil aus. Grosse Flüchtlingslager entstehen direkt an den türkischen und jordanischen Grenzen. An den libanesischen gibt es sie nicht, weil Hizbullah, der Verbündete Asads, die Grenzgebiete rund um Libanon auf der syrischen Seite beherrscht und kontrolliert.
Die Flüchtlinge, denen es nicht gelingt, ins Ausland zu fliehen sind technisch gesehen keine „Flüchtlinge“, die ein Recht auf internationale Hilfe hätten, sondern „displaced persons“, für welche eigentlich der Staat, innerhalb dessen sie von ihren Wohnsitzen vertrieben wurden, in erster Linie verantwortlich wäre. Doch dieser Staat bombardiert sie.
Ein Kriegsverbrechen mehr
Direkt an den Grenzen hoffen sie vor Bombardierungen sicher zu sein. Die Flüchtlinge leben von materieller Hilfe durch humanitäre internationale und staatliche Aktionen aus den Nachbarländern, in die sie nicht einreisen dürfen.
Das Lager von Kamoun bei Sermak am nördlichsten Zipfel der Provinz Idlib, zehn Kilometer von der türkischen Grenze entfernt, wurde am 5. Mai bombardiert. Die meist blauen Zelte machten es klar als Flüchtlingslager erkennbar. Es gab 28 Tote und 50 Verwundete. Die Zelte brannten.
Die syrische und die russische Luftwaffe stritten jede Verantwortung ab. Die Amerikaner und Uno Verantwortliche sprachen von einem Kriegsverbrechen, das untersucht und gesühnt werden müsse. Dabei blieb es zunächst.
Ruqban im Niemandsland
Am Tag zuvor waren im Lager von Ruqban an der Südgrenze Syriens mit Jordanien, tief in der Wüste gelegen, Unruhen ausgebrochen. Es gibt dort eine einzige Wasserbohrung. Im Grenzbereich besteht ein Niemandsland, das südlich und nördlich von zwei parallelen Sandwällen eingerahmt wird. Der eine gehört zu Syrien, der andere zu Jordanien. Die Grenzlinie verläuft in der Mitte zwischen den beiden. Das Niemandsland gilt als demilitarisiert. Auf dem südlichen Sandwall patrouilliert die jordanische Armee. Sie ist auch für die Ordnung in dem Lager zuständig, zusammen mit Grenzwächtern.
Im vergangenen Februar wurden knapp 20’000 Lagerbewohner gezählt. Gegenwärtig sind es gegen 55’000. Jordanische Hilfswerke bringen Wasser, Nahrung und einige Medikamente. Es gibt bis zu dreissig Bewohner in einem Zelt. Die Lagerbewohner sagen, sie verbringen ihre Zeit mit Anstehen von elf Uhr Morgens bis gegen sechs Uhr am Abend. „Manchmal reichen die Lebensmittel nicht aus, dann gehen wir hungrig zu Bett.“
Die Lagerbewohner sind vor den Bomben geflohen. Seit dem russischen Eingreifen haben die Bombardierungen zugenommen. Die Flüchtlinge hoffen auf Zulassung nach Jordanien. Doch diese wird nur tropfenweise erteilt, nicht mehr als ein Dutzend Personen pro Tag. Die jordanischen Behörden erklären, sie wollten gewiss sein, dass mit den Flüchtlingen keine Agenten von IS oder der Nusra-Front nach Jordanien eindringen. Sie betonen auch, dass es in ihrem Land bereits eine Million syrische Flüchtlinge gebe.
Die Unruhen in Ruqban brachen aus, als eine Delegation der Internationalen Flüchtlingsagentur eintraf, um die Flüchtlinge zu registrieren. Alle wollten sich registrieren lassen. Die Grenzwächter konnten die Ordnung nicht aufrechterhalten. In den Warteschlangen kam es zu Gewalttätigkeit. Die Delegierten der Flüchtlingsagentur verliessen das Lager.
Flüchtlingsstadt Zaateri
Die Lagerinsassen sagen, es gebe im Lager einen kriminellen Untergrund und es werde gestohlen. Andere Lager wie das viel ältere von Zaateri, auch in der Wüste, aber innerhalb der jordanischen Grenze, sind besser organisiert. In Zaateri leben rund 80’000 Flüchtlinge. Schrittweise bauen sie sich ihre eigene Stadt.
Flüchtlinge kommen aus weit entfernten Gebieten, wie aus den Provinzen von Homas und Aleppo. Manche kommen auch aus den vom IS beherrschten Gebieten des syrischen Ostens. Sie suchen die Sicherheit der entmilitarisierten Zone.
Türken und Syrer zwischen den Fronten
Eine solche Zone gibt es nicht an der nördlichen türkischen Grenze. Dort gibt es sogar Artilleriegefechte über die Grenze hinweg. Die Stadt Killis, heute von mehr Syrern als Türken bewohnt, obwohl sie sich in der Türkei befindet, wurde vom IS mehrmals mit Raketen beschossen.
Stadtbewohner, deren Häuser zerstört wurden und die Familienmitglieder verloren, neigen dazu, die syrischen Flüchtlinge dafür verantwortlich zu machen. Ohne die Syrer würde der IS ihre Stadt nicht angreifen, vermuten sie. Doch sie machen auch die türkische Regierung und Armee dafür verantwortlich, sie nicht besser zu schützen.
Die türkische Seite reagiert, indem die Armee ihrerseits Ortschaften jenseits der Grenze, die vom IS oder von Kurdenkämpfern beherrscht werden, unter Artilleriebeschuss nimmt. Am Sonntag meldete die türkische Armee stolz, sie habe durch ihren Beschuss über die Grenze hinweg fünfzig IS-Kämpfer getötet. Wie sie diese gezählt haben, sagten die Militärsprecher nicht. Gegenaktionen von Seiten des IS sind zu gewärtigen. Sie werden in erster Linie die Zivilbevölkerung, Türken und syrische Flüchtlinge, treffen.
Die Flüchtlingslager an den nördlichen Grenzen liegen zwischen zwei aktiven Fronten. Raketen und Artilleriegeschosse fliegen über sie hinweg oder an ihnen vorbei. Dies macht die südliche Grenze gegen Jordanien für die Vertriebenen attraktiver, obwohl sie in ihren östlichen Abschnitten aus reiner Wüste besteht.
Der Rückstau hat Syrien erreicht
Die Abschottung gegenüber den Flüchtlingen, die in Europa begann, auf dem Balkan einen Rückstau bewirkte und das fragwürdige Abkommen mit der Türkei hervorrief, hat die syrischen Grenzen erreicht. Diese wurden von den Nachbarstaaten geschlossen, weil die Türkei, Jordanien und Libanon erkannten, dass die Flüchtlinge wenig Aussicht haben, über sie hinaus weiterzuziehen.
Die Nachbarstaaten sehen sich überfüllt. In den ersten Kriegsjahren haben sie grosszügig ihre fliehenden Nachbarn aufgenommen. Doch nun ist ein Ende erreicht. Die Zahl der Vertriebenen und Heimatlosen in Syrien nimmt jedoch immer noch zu. Die Luftangriffe auf die Zivilbevölkerung haben nicht aufgehört.