Als eigenes Fach erschien Geschichte den Schulreformern unwesentlich. Die Bildungspolitik schaffte es ab. Die Folgen sind spürbar: Der historische Wissensstand ist rudimentär. Gedanken zu einem staatspolitisch gefährlichen Irrweg – im Nachgang zum ersten August.
«Rütlischwur? Hä? Noch nie gehört.» So überschrieb die «SonntagsZeitung» einen Bericht zum Geschichtsunterricht an Zürcher Sekundarschulen. Der Befund erschüttert. Viele Jugendliche hätten keine Ahnung von 1291 und wüssten kaum, warum es einen Nationalfeiertag gibt. «Wer glaubt, dass das Wissen über wichtige Ereignisse unserer Geschichte zum Allgemeingut der Volksschulabgängerinnen und -abgänger gehört, täuscht sich gewaltig», schreibt Christoph Ziegler, Sekundarlehrer und ehemaliger Präsident der Bildungskommission im Zürcher Kantonsrat.[1] Und er fügt bei: «Die Wissenslücken sind zum Teil riesig. Daran sind nicht die Jugendlichen schuld. Der Grund liegt woanders: Der Geschichtsunterricht wurde in vielen Schulen an den Rand gedrängt.»
Geschichtsunterricht wurde systematisch abgewertet
Zieglers Mahnruf überrascht nicht. Der Lehrplan 21 liess Geschichte als eigenständiges Fach vollständig fallen. In der Primarschule mäandriert Geschichte als nebulöser Schwarm im Fachbereich «Natur, Mensch, Gesellschaft» (MNG) – mit unzusammenhängenden Einzelteilen: ein bisschen Pfahlbauer, ein wenig Römer, eine Dosis Rittertum. Keine Übersicht, kein verbindendes Zusammenhangwissen, keine Strukturen, nicht einmal auf der temporalen Ebene, der Zeitachse. Die Bildungspolitik hat Geschichte systematisch abgewertet.
Auf der Sekundarstufe wurde das Fach Geschichte Teil von «Räume, Zeiten, Gesellschaften» (RZG) – zusammen mit Geografie. Definiert sind Grundansprüche. Unter dem Bereich «Lebensraum Europa» stehen beispielsweise in der ersten Sekundarklasse eine Vielzahl von hochtrabenden Kompetenzen wie: «Ich kann eine thematische Karte zur Bevölkerungsbewegung in Frankreich auswerten.» Die Kompetenzen müssten abgearbeitet werden, doch sie lassen Geschichte nur noch zerstückelt in einzelne Fragmente erkennen. Ihr Stellenwert ist nicht vorgeschrieben. Sie liegen im persönlichen Ermessen der Lehrerin, sind dem beliebigen Gutdünken des Lehrers überlassen.
Fürs Fach Geschichte generieren diese Konstrukte kaum neue Perspektiven. Viele Junglehrer fühlen sich im Kompetenzenwirrwarr völlig verloren. Es fehlt ein klares Unterrichtsprofil.
Wenn der Kohärenzkitt verloren geht
Das hat Folgen. Es erstaunt darum nicht, dass sich der gesamte Geschichtsunterricht einer dreijährigen Sekundarschule auf zwei Leuchtturmtage beschränkt: Napoleon und Holocaust. Seit Jahren verweisen Praktiker auf das Malaise im Fach Geschichte. Die Bildungsverantwortlichen müssten längst Gegensteuer gegeben – auch aus demokratiepolitischen Gründen. Geschehen ist nichts. Kaum jemand ist überrascht, wenn Peter Gautschi, Professor für Geschichte und Geschichtsdidaktik an der Pädagogischen Hochschule Luzern, konstatiert: «Der Geschichtsunterricht ist in der Krise. Er wurde zurückgedrängt. […] Für die Schweiz als Willensnation ist das verheerend – denn die gemeinsame Geschichte ist der Kitt, der unser Land zusammenhält.»[2]
Geschichte muss als Geschichte präsent sein
Die Geschichtskenntnisse schrumpfen. Das war absehbar. Sobald eine Disziplin als eigenständiger Bereich verschwindet, verschwindet auch der Inhalt. Bei Kindern und Jugendlichen sowieso: «Wenn Geschichte nicht als Geschichte in Erscheinung tritt, ist sie in ihren Köpfen nicht vorhanden», meint eine Geschichtsdidaktikerin. «Der Begriff ‚Geschichte‘ weist programmatisch auf das Kerngeschäft der Geschichtswissenschaft hin, auf ihren Umgang mit der Zeitlichkeit, auf ihre Art der Reflexion und Analyse des Vergangenen», kritisiert der Historiker Lucas Burkart. Mit dem Fachbereichsnamen «Räume, Zeiten, Gesellschaften» gehe das verloren, fügt er an.
Vor solchen Sammelfächern, wie sie die Schweizer Volksschule nun kennt, warnte auch der renommierte Entwicklungspsychologe und Vizepräsident der Max-Planck-Gesellschaft, Prof. Franz E. Weinert: «Fächer sind als Wissenssysteme unerlässlich für kognitives Lernen. Es gibt überhaupt keinen Grund für einen heterogenen Fächer-Mischmasch.» Pikanterweise berufen sich die Gestalter des Lehrplans 21 immer wieder auf Weinert. Als Ausnahme nannte der Lernpsychologe Weinert den Projektunterricht; reale Phänomene oder Probleme unserer Welt bilden hier den Ausgangspunkt.
Geschichte als Kompass in einer komplexen Welt
Die Zivilisationsdynamik ist ungebremst. Gerade darum brauchen wir den historischen Sinn – mehr denn je. Nur so können wir uns zur Fremdheit anderer, die uns nähergekommen sind, und zur Fremdheit eigener Vergangenheiten, von denen wir uns fortschrittsbedingt immer rascher entfernen, in eine Beziehung setzen. Historisches Denken ist die Basis.
Anders gesagt: Je schneller sich die Gesellschaft verändert, desto wichtiger wird das Wissen um die eigene Geschichte – und das Bewusstsein: «Da kommen wir her.» Wenn wir diese Dimension völlig verlieren, verlieren wir die Vertikale. Wenn wir uns ganz in die Horizontale begeben und uns nur noch auf die Gegenwart beziehen, dann verlieren wir das Verhältnis zur Geschichte und damit die Orientierung – und ohne Orientierung keine Grundwerte des Zusammenhaltes, keine Vorstellungen zur Raison d’Être der Schweiz. Schule vermittelt den Blick zurück; doch er zielt immer auch nach vorne. Zukunft braucht eben Herkunft, um Odo Marquards vielzitiertes Wort zu nennen.[3]
1848: Beginn der modernen Schweiz
Darum ist Geschichte als Bildungselement so wichtig. Das Fach erzählt spannende Geschichten. Menschen brauchen gute Geschichten. Sie wecken Interesse und schärfen die Wahrnehmung für neue Zeitdimensionen, gerade bei Jugendlichen. Sie führen zu Phänomenen wie zum Beispiel zur Französischen und Helvetischen Revolution von 1789 bzw. 1798 oder zur Bildung des Bundesstaates von 1848 – vor 175 Jahren. Nicht als isolierte Ereignisse, nicht als zusammenhangloser Haufen, nicht als begriffsloses Nebeneinander. Weder einfach Jahreszahlen noch Fakten, auswendig gelernt und mechanisch reproduziert. Nein. Jedes Geschehen steht in einem grösseren Zusammenhang mit der Gegenwart.
Das zeigt beispielsweise die Zeit zwischen 1798 und 1848 – eine der spannendsten Epochen der Schweizer Geschichte. Auch für junge Menschen. Es ist der Kampf um die Modernisierung der Schweiz und ihren Aufbruch in die Zukunft. Die Zeitspanne beinhaltet den kräftigen Konflikt zwischen zentralem Einheitsstaat und lockerem Staatenbund, den Streit zwischen dem französisch-napoleonischen Zentralismus – symbolisiert im Apfel – und dem alteidgenössischen Föderalismus – in Gestalt der Traube.
Der fünfzigjährige Kampf zwischen Apfel und Traube, zwischen dem Einheitsstaat und der alten föderalen Struktur ist intensiv. Es kommt zu Sonderbünden. Es gibt Krieg; es fliesst Blut. Fast bricht die Schweiz auseinander. Der Bundesstaat von 1848 bringt den Kompromiss – in Form der Orange: Die Haut symbolisiert den Bund, die Schnitze stehen für die Kantone. Konkret: Die Schweiz, ein vielfältiges Land mit möglichst autonomen Gliedstaaten oder eben Kantonen, dies dank einer föderativen Staatsstruktur. Aus dem alten Staatenbund wird über den helvetischen Zenralstaat von 1798 der heutige Bundesstaat von 1848. 175 Jahre sind es her.
Die Parallele zur Gegenwart ist evident – und damit das Postulat des scharfsinnigen Schweizer Historikers Herbert Lüthy: «Alle Geschichte ist Geschichte der Gegenwart, weil Vergangenes als Vergangenes gar nicht erfahren werden kann, sondern nur als aus der Vergangenheit Gegenwärtiges.»[4]
Der Zusammenhang als Türöffner
Erst wenn wir die Dinge im Kontext erkennen, gehen uns historische Welten auf. Das Verstehen von geschichtlichen Zusammenhängen bildet die Sensibilität für zeitliche Dimensionen und Entwicklungsprozesse, fürs Gewordene und Gegenwärtige. Zusammenhänge ermöglichen ein ausgreifendes Verständnis der Geschichte. Der Kontext wird zum Türöffner in die Zukunft. Nicht umsonst prägte der Philosoph Hans Blumenberg vor vielen Jahren den Ausdruck, Bildung sei kein «Arsenal», sondern ein «Horizont». Nicht Daten und Fakten, sondern Orientierung. Bildung als Orientierungsfähigkeit in geistigen und historischen Welten.[5]
Das kommt nicht von selbst. Jede Einsicht von Bedeutung – auch eine geschichtliche – will gedanklich erarbeitet sein. In der Vertikale. Das erspart uns keine Datenmaschine, dazu führen keine Algorithmen. Auch in Zukunft nicht. Und das Schulfach Geschichte ist eine Art Grundversicherung.
Das progressive deutsche Bundesland Hessen schaffte das Fach ab und führte es in der Zwischenzeit wieder ein – durch Aktualität eines Besseren belehrt. Auch an den Schweizer Schulen bräuchte das eminent wichtige Fach Geschichte eine Renaissance. Die Berichte aus den Klassenzimmern zeigen es.
[1] Nadja Pastega: «Rütlischwur? Hä? Noch nie gehört». In: SonntagsZeitung, 23.07.2023, S. 4
[2] Dies.: «Alle Schüler sollten mal vom Rütlischwur gehört haben». In: SonntagsZeitung, 30.07.2023, S. 3
[3] Odo Marquard (2003): Zukunft braucht Herkunft. Philosophische Betrachtungen über Modernität und Menschlichkeit. In: Zukunft braucht Herkunft. Philosophische Essays. Stuttgart: Reclam Verlag, S.234ff.
[4] Herbert Lüthy (1969): Wozu Geschichte? Zürich: Verlags AG «Die Arche».
[5] Zur «Bildung als historisches Bewusstsein» schrieb der kürzlich verstorbene Philosoph und Romancier Peter Bieri alias Pascal Mercier ein eigenes Kapitel, in: Wie wäre es, gebildet zu sein? München/Grünwald: Verlag Komplett-Media GmbH, S. 15–24.