Gershom Scholem, 1897 in Berlin geboren, 1982 in Jerusalem gestorben, war eine aussergewöhnliche Forschergestalt, einer der wenigen israelischen Intellektuellen, der zu seinem Herkunftsland Deutschland und zur deutschen Sprache eine enge Beziehung aufrechterhielt. Eine wichtige Rolle spielte dabei auch die Schweiz, gewissermassen als «neutraler» Boden.
Innere und äussere Konflikte
Diesem eminenten Judaisten und Pionier der modernen Kabbala-Forschung hat der junge israelische Historiker Noam Zadoff die erste umfangreiche Biografie nach Scholems Tod gewidmet. Sehr gut lesbar schildert er darin Scholems besonderes und komplexes Verhältnis zum Judentum, zum Land seiner Geburt, und zu Zionismus und Israel.
Zadoff, wie gesagt, ist Historiker. Ihn interessiert die geistige, politische und gesellschaftliche Vita Scholems, weniger die Erörterung seiner Forschung. Er zeichnet die inneren und äusseren Konflikte nach, die Scholem durchlebte und die ihn zeitweise an die psychischen Grenzen brachten.
Der Titel des Buchs «Von Berlin nach Jerusalem und zurück» verweist auf Scholems berühmt gewordene Jugenderinnerungen «Von Berlin nach Jerusalem». Denn Scholems Weg führte ihn nach dem Krieg immer häufiger zurück nach Deutschland und zur deutschen Sprache.
Deutsch-jüdische Symbiose als Lebenslüge
Scholem wuchs in Berlin in einem vermögenden bürgerlichen und religiös völlig desinteressierten Elternhaus auf. Früh lehnte er sich gegen den autoritären Vater auf und kam als Jugendlicher in Kontakt mit Zionisten. Nach dem Studium orientalischer Sprachen, teilweise in Bern, wanderte Scholem 1923 nach Palästina aus. Das war für einen deutschen Juden so lange vor der NS-Zeit aussergewöhnlich, hatte aber wesentlich mit Scholems Erkenntnis zu tun, dass die deutsch-jüdische Symbiose, an die so viele deutsche Juden seit ihrer Emanzipation geglaubt hatten, vor allem eine grosse Lebenslüge war.
Die nicht-jüdische Mehrheit, so Scholem, war daran nie interessiert gewesen. Als der bedeutende Judaist, der er dann wurde, kritisierte Scholem auch heftig die herkömmliche Wissenschaft vom Judentum, wie sie in Deutschland betrieben worden war, als anpasserisch und darauf aus, Nicht-Juden das Judentum schmackhafter zu machen.
Für gleichberechtigte Gemeinschaft mit den Palästinensern
In Jerusalem gehörte Scholem rasch zum Kreis um die Gründungskoriphäen der Hebräischen Universität, wo er später einen lebenslangen Lehrstuhl besass. Sie formten in den zwanziger Jahren auch den Brith Shalom (Bund für den Frieden), der für ein binationales Zusammenleben mit den palästinensischen Arabern eintrat und damals auf so verlorenem Posten stand wie ihre Nachfolger heute.
Auch Scholems Idee von Zionismus war zum Scheitern verurteilt. Er sah in Palästina ein geistiges Zentrum für alle Juden der Welt, um das kulturelle Erbe zu bewahren, weiterzuentwickeln und ihnen so Orientierung zu bieten. An einen jüdischen Territorialstaat dachte Scholem nicht. Aus heutiger Sicht, wo sich die Zweistaatenlösung in Luft aufgelöst hat, sind diese frühen politischen Überlegungen zu einem rechtsgleichen Zusammenleben von Juden und Palästinensern wieder von besonderem Interesse, und Zadoff legt zurecht viel Wert auf eine detaillierte Darstellung.
Die überwältigende Erschütterung erfuhr (auch) Gershom Scholem mit dem Holocaust. Er musste begreifen, dass weder sein noch der Zionismus der Mehrheit, die Palästina als Rettung aller verfolgter Juden sah, die Vernichtung der sechs Millionen Juden zu verhindern oder wenigstens einzudämmen vermochten. Sein Bruder Werner wurde ermordet, sein wichtigster Freund noch aus der Berliner Jugend, Walter Benjamin, hatte sich 1940 auf der Flucht das Leben genommen.
Fahndung nach jüdischer Literatur in Europa
Dennoch, schon 1946 reiste Scholem in offizieller Mission für mehrere Wochen nach Europa und machte zunächst Station in Zürich. Aber das Ziel seiner Reise war das kriegszerstörte Deutschland. Er sollte im Auftrag seiner Universität nach Büchern aus jüdischen Bibliotheken suchen, um sie nach Jerusalem zu retten. So stiess er in Offenbach, wo die Amerikaner ein Sammelzentrum für Kulturgüter eingerichtet hatten, auf Reste der bedeutenden Bibliothek des Breslauer Rabbinerseminars, von denen wiederum ein kleinerer Teil später in die Schweiz kam und heute in der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich liegt.
Zadoff beschreibt eindringlich die gewaltigen Schwierigkeiten und traumatischen Erfahrungen, die Scholem zu bewältigen hatte und die ihn nach der Rückkehr in eine tiefe Depression stürzten.
Die eine Folge war, dass Scholem politisch verstummte. Als 1948 der Staat Israel gegründet wurde – Scholem akzeptierte, dass das nun unausweichlich geworden war – plädierte er ebenso weitsichtig wie vergebens für Trennung von Staat und Religion, das fanatische Potential der Religion schon von der Geschichte her fürchtend.
In seiner Verzweiflung begann er dennoch, sich nach Europa zurückzuorientieren. Zwar ergaben sich nun auch viele Kontakte in die USA, und er reiste mehrfach dorthin. Zadoff konzentriert sich in seinem Buch aber auf die «Rückkehr» nach Deutschland. Es war eine wissenschaftliche, nicht wirklich eine persönliche Rückkehr, obwohl sich nun auch enge und freundschaftliche Verbindungen ergaben.
Annäherung an C. G. Jung in Ascona
Hierfür zentral wurden die Eranos-Tagungen in Ascona. 1933 von der finanzstarken Olga Fröbe-Kapteyn gegründet und unter Schirmherrschaft von C. G. Jung stehend trafen sich hier jährlich internationale Intellektuelle und Akademiker, die sich philosophischen und religionswissenschaftlichen Themen widmeten. Von 1949 bis 1979 war Scholem regelmässig dabei. Er konnte Deutsch sprechen, lernte deutsche Teilnehmer kennen, das aber auf neutralem Schweizer Boden. Sie wiederum erblickten in Scholem einen Berliner Intellektuellen. Es hat sie nicht interessiert, weshalb er so früh schon aus Deutschland weggegangen war und was seine israelische Identität eigentlich ausmachte. Das hat Scholem so beschäftigt wie der Antisemitismus eines C. G. Jung oder der Faschismusvorwurf gegen den rumänischen Religionsphilosophen Mircea Eliade, einer der eminenten Eranos-Teilnehmer, mit dem er sich mehr und mehr anfreundete. Was Jung betraf, genügte dessen von Leo Baeck überlieferte Aussage, er sei «ausgerutscht», und weil Eliades Faschismus nie hieb- und stichfest bewiesen worden war, gelang Scholem auch die Zuwendung zu diesem Kollegen. In Israel allerdings musste er sich dafür wiederholt rechtfertigen.
Einflussreiche Verbindungen in Nachkriegsdeutschland
In Deutschland belebte Scholem ab den 50er Jahren alte Verbindungen, insbesondere zu Theodor Adorno, zu Helmuth Plessner, und er lernte den jungen Jürgen Habermas kennen. Mit Adorno arbeitete er intensiv an der Herausgabe der Werke von Walter Benjamin im Suhrkamp Verlag. Durch seine enge Zusammenarbeit mit Sigfried Unseld und die wachsende Bedeutung Walter Benjamins später für die protestierende studentische Jugend wurde Scholem nach und nach selber zu einem der wichtigen deutsch-jüdischen Intellektuellen.
Junge Akademiker schätzten ihn als eine Art Brücke zu einem nicht kontaminierten Deutschland, als Gegensatz zu so vielen ihrer Lehrer.
Scholem seinerseits mied sorgsam jeden, der eine NS-Vergangenheit hatte oder «verlogene süssliche Heucheleien» von sich gab. Beispiel etwa war 1963 eine abgelehnte Gastprofessur an der Uni Heidelberg, weil hier noch zu viele Altnazis am Wirken waren. Dass den Einladenden offenkundig nicht bewusst war, wie geschmacklos deshalb eine solche Einladung überhaupt war, sagt eigentlich schon alles. Dennoch, Scholem entfaltete eine rege Tätigkeit, hielt Vorträge, stand im Austausch mit der akademischen Welt, schrieb Bücher (in Deutsch) und Artikel. Auch der NZZ und ihrem Feuilletonchef Werner Weber war er eng verbunden.
Was den Konflikt mit den Palästinensern betraf, war Scholem in seinen letzten Jahren von tiefer Resignation ergriffen. «Heute gibt es keine Lösung mehr», sagte er 1981 zu einem Kollegen in Deutschland, kurz ehe sich sein Lebenskreis tatsächlich in Berlin schloss. Er war Gast des dortigen Wissenschaftskollegs, erkrankte und kehrte frühzeitig nach Jerusalem zurück. Hier starb er am 21. Februar 1982.
Noam Zadoff: Von Berlin nach Jerusalem und zurück. Gershom Scholem zwischen Israel und Deutschland. Vandenhoeck&Ruprecht 2020, 416 Seiten, Fr. 75.90