Begründungen wie Sicherheit und der „jüdische Charakter“ des Staates Israel werden wieder einmal als das definiert, was sie sind, nämlich Ausreden und Blankoschecks für unmenschliches staatliches Agieren. Der 16. September 2013 ist in diese Hinsicht ein historisches Datum. Auch wenn an diesem Tag nur ein Teil des Problems gelöst worden ist. Doch ein Anfang ist gemacht: Die Grundsätze demokratischen Lebens wurden durch ein Urteil des höchsten Gerichts Israels – von vielen als „Linke“ beschimpft – ins Zentrum des öffentlichen Lebens gestellt.
Flüchtlingsandrang aus Sudan und Eritrea
Das oberste Gericht hatte am Montag entschieden, dass Teile eines von der Regierung Netanyahu durchgepaukten Gesetzes, das die Inhaftierung von illegalen Immigranten bis zu drei Jahren ermöglichte, gegen menschenrechtliche Grundsätze des Landes verstossen. Die Regierung wurde vom Gericht verpflichtet, alle Fälle von inhaftierten Immigranten innerhalb von 90 Tagen zu überprüfen. Gegenwärtig sind 1'750 Fälle von Immigranten bekannt, die unter diesem Gesetz gefangen gehalten werden. Die Zahl der illegalen Immigranten wird von der Zeitung „Haaretz“ mit rund 55'000 angegeben.
Nach Israel drängen afrikanische Flüchtlinge, vor allem aus dem Sudan und Eritrea. Dort werden schwarze Menschen verfolgt und getötet – in Anlehnung an Europas NS-Geschichte: weil sie der falschen Religion oder „Rasse“ angehören. Die israelische Regierung sperrte Tausende von Flüchtlingen in speziell gebaute Gefängnisse in der Negev Wüste, Männer, Frauen, Säuglinge und Kinder, ohne Gerichtsurteil – völlig illegal, unethisch und unmenschlich. Auch wenn es stimmt, dass vor allem Tel Aviv von zehntausenden Flüchtlingen überflutet wird und die sich nicht immer vorbildlich benehmen.
Am Beispiel zweier Familien
Doch auch dafür sind die Regierung und die Knesset verantwortlich, denn vor allem das für diese Menschen geltende totale Arbeitsverbot gibt ihnen keinerlei Chance, ein halbwegs normales Leben zu führen. Dabei jammern israelische Arbeitgeber über den Mangel an Arbeitskräften, besonders in der Landwirtschaft, in der es an importierten Chinesen, Thais und Filipinos nur so wimmelt.
Am Beispiel von zwei Familien aus Darfur, die seit Jahren in Zichron Ya’akov wohnen, weiss ich, dass es auch menschlichere Wege aus dieser Situation gibt als Gefängnis, Arbeitsverbot und Kriminalisierung. Diese zwei muslimischen Familien wurden in Zichron Ya‘akov aufgenommen, jüdische Bürger nahmen sich ihrer an. Heute sind diese ehemaligen Flüchtlinge integriert, die Kinder gehen mit Erfolg in die staatliche Schule, ja sprechen unter sich sogar Hebräisch. Die Familien sind heute völlig selbsterhaltend und auf keinerlei staatliche Unterstützung angewiesen. Juden sind sie nicht, sie sind Muslime. Als solche gingen sie zwei, dreimal ins benachbarte arabische Dorf Fureidis um in der Moschee zu beten. Von ihren Religionsgenossen dort wurden sie sehr schlecht behandelt und beleidigt – sie gehen schon lange nicht mehr hin.
Hort der Menschlichkeit und Demokratie?
Israel behauptet wiederholt und mit einigem Recht, es sei im Gegensatz zu seinen Nachbarn ein Hort der Menschlichkeit und Demokratie. Grundsätzlich ist das so, auch wenn enorme Hetzaktionen gegen afrikanische Flüchtlinge in Szene gesetzt worden sind, die in vielem der antisemitischen Propaganda eines Streicher ähnlich sehen. Diese „Kuschim“ (Neger) brächten gefährliche Krankheiten mit und würden die israelische Bevölkerung anstecken, sie seien faul und wollten nicht arbeiten, sie seien alle Verbrecher und bedrohten Frauen in Süd-Tel-Aviv und ähnliches mehr. Gefährliche Verallgemeinerung, wie überall Ausdruck von Angst und deren Zwillingsbruder, dem Hass. Die Regierungspolitik machte diese Menschen zu Parasiten, völlig unnötig.
Inzwischen hat die israelische Regierung in Zusammenarbeit mit der ägyptischen einen Zaun an der Grenze zwischen der Sinaihalbinsel und Israel errichtet. Es kommen nur noch sehr wenig afrikanische Flüchtlinge ins Land. In Ägypten wurden viele von Terroristen und Armeeangehörigen erschossen, bevor sie von israelischen Soldaten empfangen, verpflegt und weitergeleitet oder weiter ins Landesinnere flüchten konnten. Dort konnten sie ihre Anliegen den Behörden vorbringen.
Erinnerungen an die Flüchtlingspolitik der Schweiz
Die heutige Situation erinnert fatal an die Flüchtlingspolitik der Schweiz während der Nazizeit. Hunderttausende – eine genaue Zahl kann nicht festgestellt werden – jüdischer Flüchtlinge standen an der Schweizer Grenze und wollten gerettet werden. Etwa 30'000 wurden eingelassen und mussten von der jüdischen Gemeinschaft des Landes finanziert werden – der Bundesrat hatte nur Geld für nichtjüdische Flüchtlinge. Diese Juden an der Schweizer Grenze waren in Todesgefahr, viele Zurückgewiesene endeten in Auschwitz, nicht wenige von Schweizer Soldaten direkt der dankbaren Gestapo ausgeliefert.
Nicht unähnlich heute die Lage afrikanischer Flüchtlinge: Sie müssen in der muslimischen Welt um ihr Leben fürchten, werden von Nethanyahu in ihre Ursprungsländer zurückgeschickt – grosszügig auf Staatskosten. Wie man inzwischen weiss, sind sehr viele von ihnen verschwunden, für immer, wie es heisst. Wie die Schweiz im Zweiten Weltkrieg, ist Israel von Feinden umgeben und läuft Gefahr seinen moralischen Kompass zu verlieren. Und wie damals in der Schweiz sind die Einlass begehrenden Flüchtlinge unschuldige ums Überleben kämpfende Menschen.
Kampf gegen rassistische Vorurteile
Jetzt bleibt abzuwarten wie die Regierung mit diesem Gerichtsurteil umgehen wird. Eine Frau mit Kind sei schon entlassen worden. Es ist zu hoffen, dass der Oberste Gerichtshof die Entlassungen überwacht und dass das Innenministerium, traditionell ein Hort für religiöse Rassisten, dem Urteil schnell Taten folgen lässt. Zudem liegt es an der Regierung, Massnahmen zu ergreifen, um den Flüchtlingen Arbeit zu verschaffen, die ihnen ein halbwegs ehrenwertes Leben ermöglicht. Nicht weniger wichtig ist es, bestimmten Bevölkerungsteilen klar zu machen, dass rassistische Vorurteile und Verallgemeinerungen für einen jüdischen Staat völlig unakzeptabel sind. Die Situation ist problematisch, doch die heutige Regierungspolitik und die damit ausgelöste Reaktion gewisser Bevölkerungsteile sind gewiss keine Lösung. Israelische Politiker reden oft davon, der jüdische Staat sei ein „Licht für die Völker der Welt“. Jetzt hätten sie eine Gelegenheit, dies zu beweisen.