Sie bedauerte es in den letzten Jahren ihres Lebens, nicht mehr reisen zu können, wie sie es einst getan hatte – auf eigene Faust, wissensdurstig und unerschrocken. Doch sie grämte sich deswegen nicht: Die Erinnerungen konnte ihr niemand nehmen. Ein Altersgebrechen behinderte sie, liess sie aber nicht unbeweglich. Sie wollte selbstständig bleiben, im Quartier einkaufen gehen, allein den Haushalt machen, was ihr dank Hartnäckigkeit und der Hilfe von Nachbarn auch gelang.
Und sie genoss die Aussicht aus den Fenstern ihrer hellen Wohnung in der Zuger Herti, den Blick hinaus auf den See und in die Berge, und sie erahnte wohl, hinter Rigi und Pilatus sowie den Alpen dazwischen, den Süden und das Mittelmeer. Und weiter jenseits des Mittelmeers den Maghreb und die Levante, jene Welt, an welche die Grafikerin und Dekorateurin 1952 auf einer Studienreise mit der „Ecole du Louvre Paris“ ihr Herz verloren hatte.
Liebe zur arabischen Wüste
In ihrer Liebe zum Reisen und zur arabischen Wüste glich Helen Keiser dem britischen Abenteurer Wilfred Thesiger (1905-2003), den der amerikanische Schriftsteller Paul Theroux einst „den Reinsten der Reisenden“ genannt hat, da er des Entdeckens und des Erlebens wegen reiste und nicht, um Geld zu verdienen oder berühmt zu werden. Wie Helen Keiser faszinierte Wilfred Thesiger der genügsame Alltag der Beduinen: „In der Wüste fand ich eine Freiheit, die in unserer Zivilisation unerreichbar ist, ein Leben unbeschwert von Besitztümern.“
Der Diplomatensohn hatte noch als Kind in Addis Abeba die triumphale Rückkehr der Armee des späteren Kaisers Haile Selassie erlebt und auf der Strasse die äthiopischen Krieger mit ihren blutverschmierten Uniformen und Waffen gesehen. Die Parade in Addis, sagte der Brite später, habe in ihm „ein lebenslanges Verlangen nach Wildheit, Farben und dem Dröhnen von Trommeln geweckt.“
Helen Keiser hingegen war alles Martialische, waren aller Pomp und alle Umstände fremd. Doch mit Sir Wilfred teilte sie das Streben nach Erdverbundenheit, nach Einfachheit und Echtheit. Was der Brite über seine Abenteuer in Afrika, Arabien, am Persischen Golf und in Südasien sagte, gilt ohne Zweifel auch für die Tochter eines Zuger Lehrers: „Zu den vielen Früchten meiner Reisen gehörte es, gerade noch rechtzeitig dort gewesen zu sein.“
Einzigartige Dokumente
Noch rechtzeitig war Helen Keiser etwa bei den Maadan in den Sümpfen des Shatt al-Arab oder bei den Beduinen vom Stamm der Murra in Saudi-Arabien. Sie war an Orten, die erst in jüngerer Zeit, meist als Folge von Kriegen, Verwüstung oder Zerstörung anheim gefallen sind: im Souk von Aleppo, im Basar von Bagdad, im alten Hafen von Basra, im jemenitischen Hadramaut.
Was Helen Keiser auf ihren Reisen im Orient fotografiert hat, nennt Arnold Hottinger, der langjährige Nahost-Korrespondent der NZZ, „einzigartige Dokumente“. Sie habe nicht die arabische Moderne dokumentiert, sondern eine von Traditionen geprägte Welt, die schon damals marginal, aber noch präsent war: den Alltag arabischer Beduinen und Wüstenbauern, die Arbeit omanischer Bootsbauer, die alten Städte mit ihren Handwerkern und Händlern, Randgebiete wie die Sümpfe des Südirak, Berge und Küsten des Jemen.
Helen Keiser, schreibt Arnold Hottinger im Fotoband „Salaam“, habe es verstanden, sich ohne Dünkel in das einfache Leben der Menschen im Orient einzufügen und der grossen Harmonie nachzuspüren, in der sich die Araber bewegten: „Sie folgte mit ihrer Kamera einem Leben, das im Einklang mit der die Menschen umgebenden Landschaft stand und das ihrem Inneren, ihrer Kultur, ihrer mitbestimmenden Umwelt entsprach.“
Rettung von Dingen und Lebensweisen
Helen Keiser, folgert der Nahost-Kenner, dokumentiere in ihren Bildern, Büchern und Reportagen eine Welt ohne Politik, wobei es aber gerade die Politik gewesen sei, die dem ein Ende bereitete, was sie „so farbig, liebevoll und überzeugend“ darstellte. Nationalstaaten erstarkten, Diktatoren übernahmen die Macht, die Moderne und der Konsum hielten Einzug, die Verstädterung nahm zu, die Umwelt verschmutzte. Helen Keisers Sichtweise, so Hottinger, komme deshalb einer Rettung von Dingen und Lebensweisen gleich: „Menschen, Tieren, Landschaften, Überlebenstechniken, die es so, wie sie es eingefangen hat, heute nicht mehr gibt.“
Aus dem beschaulichen, selbstzufriedenen Zug der 50er-Jahre hatte es Helen Keiser 1954 erstmals für Monate hinaus in den Orient und nach Indien gezogen: „Obwohl ich mir in der Schweiz nichts sehnlicher als den ewigen Sand herbeiwünschte, verspürte ich in der Wüste im gelbflimmernden Sand wie sonst nie eine unstillbare Sehnsucht nach unserem schönen See. Allein die Vorstellung von soviel Wasser auf einmal wirkte wie eine Vision.“ Trotzdem sagte sie, in der Schweiz schmecke ihr alles wie Dessert. Es ziehe sie eher dorthin, wo es nichts gebe.
Es folgten, bis Ende der 70er-Jahre, etliche weitere Reisen in die arabische Welt: nach Marokko (zu den Königsstädten), in den Irak (zu den Ruinen von Ur, Uruk, Nippur und Babylon), nach Syrien (zu Sprachstudien in Damaskus), nach Jordanien (wo König Hussein sie empfing), in die Flüchtlingslager der Palästinenser, in den Jemen, nach Oman und schliesslich, nach siebenjähriger Wartezeit auf ein Visum, auch nach Saudi-Arabien (entlang der antiken Weihrauchstrasse).
Wache Besorgnis über den heutigen Orient
Was sie sah, hörte und erlebte, hielt Helen Keiser in mehreren Büchern fest. Deren eines - „Geh nicht über den Jordan. Schicksal Palästina“ - fand nach dem Sechstagekrieg von 1967 erst keinen Verleger, der es angesichts der allgemeinen Begeisterung für Israel gewagt hätte, den schmalen Band zu drucken. Es war, lange vor dem Aufkommen des militanten Islams und der Suche nach den Gründen dafür, die Geschichte eines vertriebenen Palästinensers, der zum Terroristen wird – ohne jegliche Schuldzuweisung.
Zurück in Zug begann Helen Keiser zu malen, aus der Erinnerung an eine Welt, deren Faszination sie nie losgelassen und deren Schicksal sie bis an ihr Lebensende mit wachsender Besorgnis und Betrübtheit verfolgt hat: die ersten Kriege am Golf, die Konflikte Israels mit Libanesen und Palästinensern, die Kriege Amerikas in Afghanistan und im Irak nach 9/11, die Kämpfe im Jemen, die Unruhen in Ägypten, den Bürgerkrieg in Syrien. Natürlich interessierte sie auch der Arabische Frühling, der für kurze Zeit Anlass zu Optimismus war, dessen Ernte bisher aber bitter ausgefallen ist.
Es war am Ende nicht mehr jener Orient, den Helen Keiser in den 50er-Jahren lieben gelernt hatte. Dessen Anziehungskraft sie jeweils frisch hatte aufbrechen lassen, vom malerischen Ufer des Zugersees in eine entbehrungsreiche Region, in der sie als Frau allein unterwegs war, zu Fuss, zu Pferd, auf Eselsrücken oder im Sattel eines Kamels, lediglich mit dem Nötigsten ausgerüstet, aber immer mit wachem Blick und Empathie. Und sie reiste allen Risiken zum Trotz stets im Vertrauen auf die Menschen, deren Alltag, deren Freuden, Sorgen und Nöte sie teilte.
„Ich kann mir nicht vorstellen, wie Helen Keiser es übers Herz brachte, von Arabien Abschied zu nehmen“, sagt im Bildband „Salaam“ der Filmemacher Christoph Kühn, der 1998 unter dem gleichnamigen Titel ein 31-minütiges Videoporträt der Zugerin gedreht hat: „Hingegen vermag ich mir auszumalen, dass der Moment für sie furchtbar gewesen sein muss.“
Den Tod indes hat Helen Keiser, anders als viele Zeitgenossen, nicht gefürchtet. „Der Tod ist kein Schrecken, sondern gehört zum Leben, ist Ablösung des Lebens“, zitiert Porträtist Kühn die Orient-Reisende. Bei den Beduinen in Arabien, sagt Helen Keiser, habe sie gelernt, den Tod hinzunehmen: „Dann ist man ganz klein, aber aufgehoben in der grossen Wüste“.