Der ägyptische Verteidigungsminister und Oberkommandant der Armee, General al-Sissi, hielt am Mittwoch eine Rede vor militärischem Publikum, die vom nationalen Fernsehen übertragen wurde. Darin forderte er das ägyptische Volk auf, am kommenden Freitag zu demonstrieren (er sagte nicht für oder gegen wen), «um ihren Willen zu zeigen und mir, der Armee und der Polizei ein Mandat zu gewähren, gegen mögliche Gewalt und Terrorismus einzuschreiten». Er doppelte nach, indem er wiederholte: «So dass im Falle, dass es zu Gewalt und Terrorismus käme, die Armee ein Mandat besässe, dagegen vorzugehen».
Ein Freipass gegen die Muslimbrüder?
Natürlich weiss jedermann in Ägypten, dass es darum geht, die seit dem 4. Juli permanent demonstrierenden Muslimbrüder und ihre Verbündeten, die kleineren Islamistenparteien, in die Schranken zu weisen. Der General sagte auch, er rufe nicht zu Unruhen auf, und er sei für «nationale Versöhnung». Doch das entscheidende Faktum ist, dass er, nicht etwa der neu ernannte Präsident Ägyptens oder dessen neu eingesetzter Regierungschef, zu Gegendemonstrationen aufruft und dass dies mit dem ausdrücklichen Ziel geschieht, der Armee eine Art von Vollmacht zu gewähren, die beinhalten soll, falls nötig mit Gewalt gegen die Anhänger Mursis vorzugehen.
Dies widerspricht der oft wiederholten Versicherung, die ägyptische Armee werde nicht «auf das ägyptische Volk» schiessen. Allerdings mit der Unterstellung, die Brüder und ihre Anhänger seien nicht «das Volk» sondern «mögliche Unruhestifter und Terroristen». Asad in Syrien hat ähnlich gedacht: In seiner und in der Sicht seiner Propagandisten sind grosse Teile des syrischen Volkes, sogar seine wahrscheinliche Mehrheit, ebenfalls «gewalttätige Terroristen, die vom Ausland aus gesteuert werden».
Gefahr einer Spaltung der Armee?
In seiner Rede sagte al-Sissi auch, die Gerüchte, nach denen es Spaltungen in der Armee gebe, seien falsch. Er schwöre, dass die Armee einig dastehe. Dies ist von zentraler Wichtigkeit angesichts der Belastungsprobe, die ein mögliches Vorgehen gegen die Massen der Muslimbrüder für den Zusammenhalt der ägyptischen Armee zwangsläufig bedeuten würde. Auch die Brüder stellen diesen Faktor in Rechnung. Die Gerüchte, die der General erwähnte, könnten möglicherweise von ihnen ausgestreut sein. Sie könnten sich aber auch als begründet erweisen.
Die Muslimbrüder, die immer noch über Sprecher verfügen, die ihren Standpunkt artikuliert darstellen können, antworteten sofort durch den Mund eines ihrer bekannten politischen Führer, Mohammed Beltagy's: «Al-Sissi ruft zum Bürgerkrieg auf (...) mit dem Ziel seinen Coup zu beschützen (...) Er beweist nun, dass er der wirkliche Herrscher ist und dass der Präsident, der Vizepräsident und die Regierung keinerlei eigene Macht besitzen.»
Die Brüder haben versichert, dass auch sie am kommenden Freitag demonstrieren wollen. Auf der Gegenseite haben die Organisatoren von «Tamarrod», der «Auflehnung», welche die Millionen von Unterschriften gegen Mursi gesammelt hatten, zur Unterstützung der von der Armee geforderten Manifestationen aufgerufen.
Man weiss heute, dass die Militärs im Vorfeld des Staatsstreiches vom 3. Juli und der Grossdemonstrationen vom 30. Juni Tamarrod diskret geholfen haben, die Unterschriften zu sammeln. Hohe Offiziere und ehemalige Offiziere, die der amerikanischen Presseagentur AP über diese Vorgänge berichteten, haben ausgesagt, nachdem Tamarrod schon im April zwei Millionen Unterschriften gesammelt habe, hätten die Militärs sich für die Sache interessiert und ihnen geholfen, bis Ende Juni die 22 Millionen Unterschriften zu erlangen, die sie erreicht zu haben behaupteten.
Ein Katz-und-Maus-Spiel in den Kulissen
Die militärischen Quellen haben auch gesagt, Mursi habe bei zwei Gelegenheiten versucht, Kontakte mit Offizieren zu knüpfen, um al-Sissi abzusetzen und einen neuen Oberkommandanten zu ernennen; dies schon im April und Mai und später noch einmal im Juni. Beide Mal seien diese Fühler nach oben gemeldet und damit vereitelt worden. Erwähnt wurden auch Zusammenstösse zwischen al-Sissi und Mursi über Politik und Taktik im unruhigen Sinai; das Verhältnis Ägyptens zu Gaza und Hamas; die Kriegsdrohungen Mursis gegenüber Äthiopien; seine Konzessionsbereitschaft in Grenzstreitigkeiten gegenüber dem Sudan.
In diesem letzten Fall habe al-Sissi seinen Generalstabschef nach Mursis Besuch in Khartoum in den Sudan gesandt, um dort sehr deutlich zu machen, dass die ägyptische Armee keinerlei Grenzkorrekturen zugunsten Sudans zulassen werde. Es sei auch zu Befehlsverweigerungen al-Sissis gegenüber Mursi gekommen, zum Beispiel als dieser dem General befahl, energischer gegen Anti-Mursi-Demonstranten einzuschreiten und als er forderte, die Armeeführung solle mit Khaled Mashaal, dem Chef von Hamas, verhandeln, statt die aufständischen Islamisten und Terroristen in Sinai aktiv zu bekämpfen. (AP, 17. Juli 2013: «Behind Egypt's coup, months of acrimony between Morsi and top General over Sinai policies»).
Coup oder «Unterstützung des Volkes»?
Diese Informationen sind von Gewicht, wenn es darum geht, zu beurteilen, ob das Ereignis vom 3. Juli ein Staatsstreich war oder nicht. Die neue Regierung und hinter ihr die Armee streiten dies ab mit dem Hinweis, die Armee habe auf Aufforderung «des Volkes» gehandelt. Sie habe nur mitgeholfen, dessen Wünsche durchzusetzen.
Die Frage, ob Staatsstreich oder nicht, ist von Bedeutung, weil es in den Vereinigten Staaten ein Gesetz gibt, das diesen verbietet, einem Staat Hilfe zukommen zu lassen, dessen Regime auf einem Putsch beruht, durch den eine demokratisch gewählte Regierung abgesetzt wurde. Die Obama-Regierung hat aus diesem Grund gezögert, den Putsch einen Putsch zu nennen und erklärt, sie sei noch damit beschäftigt, die genauen Umstände des Geschehens in Ägypten zu bewerten. Amerika möchte vermeiden, mit den ägyptischen Militärs brechen zu müssen, weil das gute Verhältnis zu den ägyptischen Streitkräften als die beste Garantie dafür gilt, dass der ägyptisch-israelische Frieden gewahrt bleibt.
Die Hilfsgelder an die ägyptischen Streitkräfte wurden zuerst 1979 zugesagt, um Kairo dazu zu bewegen, dem damaligen Friedensvertrag zuzustimmen, und sie sind seither ununterbrochen geflossen. Doch soeben wurde gemeldet, die Amerikaner hätten die Auslieferung von vier F-16-Kampfflugzeugen an Ägypten zurückgestellt, die zuvor bereits angekündigt worden war. Dies ist Teil einer Grosslieferung von 20 Stück, von denen acht bereits ausgeliefert wurden. Die Amerikaner erklärten, die Zurückstellung erfolge «angesichts der gegenwärtigen Lage». Doch die 1,3 Mia. Dollar Hilfsgelder sollen vorläufig weiter fliessen.
Al-Sissi auf der Suche nach Legitimität
Es ist denkbar, dass die amerikanische Diskussion über «den Staatsstreich, der noch kein Staatsstreich ist», al-Sissi mit dazu veranlasst hat, seinen jüngsten Schritt zu unternehmen. Wenn eine grosse Demonstration «für die Armee» am Freitag zustande kommt, kann er diese erneut zur «Legitimierung» seines Handelns heranziehen.
Doch diese neuen Demonstrationen dürften schwerlich so gross werden wie jene vom 30. Juni, die den Noch-nicht-Staatsstreich auslösen halfen. Die damaligen Demonstranten haben ihr Ziel erreicht: die Absetzung Mursis. Das nun vorgegebene Ziel eines Mandats, mit anderen Worten: eines Blankochecks für die Armee dürfte nicht gleichermassen volkstümlich sein. Allerdings kann sich die Armeeführung sagen, sie beherrsche ja nun die Massenmedien Ägyptens (jene der Brüder wurden geschlossen), und so werde es ihr leicht sein, die Grösse der neuen Demonstrationen zu ihren Gunsten zu übertreiben. Schon am vergangenen Freitag hatte Tamarrod zu einer Grossdemonstration als Gegen-Manifestation gegen jene der Brüder aufgerufen; sie war aber nicht besonders gross ausgefallen.
Die erste Bombe im Niltal
Neben den aussenpolitischen Motiven in Bezug auf die Amerikaner könnte der Auftritt des Oberkommandanten auch innenpolitische Beweggründe haben: Ungeduld über die zähen Demonstrationen der Brüder und auch, konkreter, Befürchtungen, die durch den ersten Bombenanschlag im eigentlichen Ägypten ausgelöst wurden. Im unruhigen Sinai hat es zu Mursis Zeiten und seither vermehrt, schon viele Bombenanschläge gegeben. Doch das eigentliche Ägypten hatte keine gekannt, bis zur Nacht des 22. Juli, als im Zusammenhang mit blutigen Strassenunruhen eine Bombe in der Deltastadt al-Mansoura explodierte, einen Polizeiposten zerstörte, 17 Polizisten verwundete und mindestens einen das Leben kostete.
Die Brüder haben jede Verantwortung für die Bombe abgelehnt. Sie wollen weiterhin friedlich demonstrieren, obwohl sie bereits gegen 90 Todesopfer, «Märtyrer der Legitimität», zu beklagen haben. Doch für alle Sicherheitskräfte muss die Bombe von al-Mansoura eine ernste Warnung im Blick auf das bedeuten, was noch bevorstehen könnte – nämlich ein Übergreifen der Zustände, wie sie bereits im Sinai herrschen, auf das Niltal. Diese könnten sehr wohl, verbunden mit wachsender Unzufriedenheit über die Wirtschaftslage, dem spitzen Ende eines Keils gleichkommen, der das Land von den der Absicht nach «gewaltlosen» Demonstrationen in ein gewaltsames Ringen mit Waffen und Bomben hineinzwingen könnte.
Vielleicht sucht die Armee schon jetzt Ellbogenfreiheit, um sich präventiv die Möglichkeit einer energischen Repression ihrer Gegner zu sichern.