Anhänger des radikalen irakischen Geistlichen Muqtada al-Sadr sind am Freitag erneut in die Grüne Zone von Bagdad, die Regierungszone, eingedrungen. Die Polizei setzte ihr diesmal mehr Widerstand als beim ersten Mal entgegen.
Zwei Demonstranten wurden getötet und mehr als 80 verletzt. Die Särge mit den beiden Todesopfern wurden demonstrativ durch die ganze Stadt getragen. Trotz des Widerstandes der Sicherheitskräfte war es einigen Demonstranten gelungen, kurz in den Amtssitz von Ministerpräsident Haidar al-Abadi vorzudringen.
Iranischer Einfluss im Irak
Der Schiiten-Politiker und Milizenführer Muktada al-Sadr hatte seine Anhänger nicht ausdrücklich aufgerufen, in die Regierungszone einzudringen. Doch er hielt Brandreden, in denen er warnte, die "friedlichen" Demonstrationen würden nicht aufhören, bis eine neue Regierung aus Fachleuten gebildet sei.
Er forderte, dass die Ministerien nicht mehr wie bisher den politischen Parteien zugeschachert werden. Kritisch äusserte er sich auch zum Einfluss Irans im Irak, obwohl er selbst jahrelang in Iran Zuflucht gefunden hatte.
Kein Quorum
Ministerpräsident al-Abadi will die Ministerien neu besetzen und hat eine Liste mit neuen Namen vorgelegt. Doch die Parteichefs der schiitischen Koalitionsparteien wollen "ihre" Ministerien nicht aufgeben. Sie versuchen deshalb, eine Regierungsumbildung zu verhindern.
Zu diesem Zweck fordern sie ihre Abgeordneten auf, an den Parlamentssitzungen nicht teilzunehmen, damit das nötige Quorum bei Wahlen und Abstimmungen nicht erreicht werden kann. Deshalb ist es noch nicht gelungen, ein neues Kabinett zusammenzustellen.
Abgeschirmtes Gebiet
Doch die Sadr-Milizen wollen solange mit ihren Demonstrationen fortfahren, bis eine neue Regierung, die ihren Wünschen entspricht, zustande kommt. Die Spannung wächst.
Das erste Mal, als die „Sadristen“ am 30. April die Grüne Zone stürmten, glich alles einem Volksfest. Die Demonstranten aus den Elendsvierteln der Sieben-Millionenstadt waren noch nie in der dicht abgeschirmten Grünen Zone gewesen. Vor der amerikanischen Invasion hatte Saddam Hussein dort seinen Hauptpalast. Nach Saddams Sturz errichteten die Amerikaner dort mit der Grünen Zone ein abgeschirmtes Gebiet, das nur von Personen betreten werden durfte, die über die nötigen Ausweise verfügten. Heute befindet sich in der Zone die weltgrösste amerikanische Botschaft, aber auch andere Botschaften, das Parlament, der Sitz des Ministerpräsidenten und weitere Regierungsgebäude.
Im Schatten der Bäume
Die Demonstranten, die Ende April zum ersten Mal die Zementmauern überklettert und teilweise umgestürzt hatten, waren erstaunt und verblüfft über die gepflegten Rasenflächen und die Brunnen, die es da gab. Manche sagten, sie hätten nie gedacht, dass sie je das Innere der Grünen Zone zu sehen bekämen. Dort zu sein, markiere den schönsten Tag ihres Lebens.
Bedächtigere unter den Demonstranten brachten Wolldecken mit und liessen sich im Schatten der Bäume nieder, während die Aktivisten unter ihnen bis ins Parlament vordrangen und dort ihre eigene Parlamentssitzung inszenierten.
Kein Volksfest mehr
Das Eindringen der Demonstranten am 20. Mai glich nicht mehr einem Volksfest. Die Sicherheitskräfte setzten Tränengas ein, Warnschüsse wurden abgegeben. Teils wurde auch scharf geschossen. Beim ersten Eindringen hatten viele Polizisten, die ebenfalls aus den Sadr-Slums stammen, den Demonstranten gegenüber Sympathien gezeigt.
Diese Sicherheitskräfte wurden in der Zwischenzeit durch entschlossenere Einheiten ersetzen; ihre Kommandanten wurden ausgewechselt.
"Friedensbrigade"
Die Sadr-Miliz soll in der Lage sein, bis zu 500’000 Mann zu mobilisieren. Dies zumindest behaupten ihre Organisatoren. Die Miliz hatte einst als die "Mehdi Armee" gegen die Amerikaner gekämpft. In den Jahren 2006 und 2007 hatte sie als eine der wichtigsten schiitischen Gruppen gegen die Sunniten gekämpft. Die blutigen Zusammenstösse hatten dazu geführt, dass sich ganze Quartiere in Bagdad entvölkerten. In der Folge hatte Muqtada Sadr hatte die Miliz für aufgelöst erklärt. Er selbst war nach Iran geflohen, "um dort zu studieren".
Nach dem Abzug der Amerikaner kehrte er in den Irak zurück. Seine Miliz erschien neu auf dem Plan, als Ajatollah Sistani im August 2014 die irakischen Schiiten aufrief, Milizen zu bilden, um ihr Land gegen den „Islamischen Staat“ (IS) zu verteidigen. Der IS hatte damals die nördlichen Landesteile mit der Stadt Mosul erobert. Die ehemalige „Mehdi Armee“ trägt nun den Namen "Friedensbrigade". Doch angeführt wird sie von den gleichen Personen wie damals.
Irakische "Sadr-Miliz" gegen iranische "Badr-Miliz"
In dem Sadr-Slum von Bagdad, heute „Sadr City“ genannt, wo die Milizionäre rekrutiert werden, sollen gegen vier Millionen Menschen leben. Die Sadr-Aktivisten sind dort nicht nur militärisch sondern auch sozial aktiv, indem sie von den Moscheen aus Netzwerke unterhalten, die den bedürftigsten Schiitenfamilien zu Hilfe kommen.
Der schiitischen Sadr-Miliz stehen andere schiitische Milizen gegenüber, die zum Teil professioneller organisiert sind, so die „Badr-Miliz“. Sie war einst im irakisch-iranischen Krieg von Iran aufgestellt worden. Sie setzte sich aus irakischen Schiiten zusammen, die vor Saddam Hussein geflohen waren und sich in Iran absetzten. Diese Mannschaften kehrten nach der amerikanischen Invasion des Irak in ihre Heimat Irak zurück. Seither wurde die Miliz mit iranischer Hilfe neu bewaffnet und organisiert. Sie blieben unter der Führung von Geistlichen der Hakim-Familie weiterhin eng mit Iran verbunden.
Noch eine pro-iranische Miliz
Neben der Badr-Miliz gibt es eine zweite, ebenfalls bewaffnete pro-iranische schiitische Gruppe. Sie nennt sich "Liga der Aufrechten". Sie hilft heute der irakischen Armee im Kampf gegen den „Islamischen Staat“. Eine Zeit lang galt sie gar als kampftüchtiger als die demoralisierte offizielle irakische Armee.
Doch sie hat sich einen fragwürdigen Namen gemacht, weil ihre Kämpfer dazu neigen, alle Sunniten als potentielle Anhänger des IS zu behandeln. Folge war, dass die Sunniten aus ihren Dörfern flohen. In die jetzt leerstehenden Häuser zogen Schiiten ein. Das brutale Vorgehen der Miliz führte dazu, dass sich noch mehr Sunniten dem IS zuwendeten. Sie sagten, sie würden vom „sunnitischen“ IS immer noch besser handelt, als von der schiitischen Miliz. Amerikanische Militärberaten veranlassten darauf, dass die Miliz nicht mehr im Kampf gegen sunnitische Dörfer eingesetzt wird.
Mehr Attentate in Bagdad
Die Unruhen, die nun in Bagdad ausbrachen, führten dazu, dass ein Teil der Milizen und Soldaten, die gegen den IS kämpften, zurückgezogen wurden.
Der „Islamische Staat“ schürte die Unsicherheit in Bagdad, indem er mehr und mehr Anschläge durchführte. Selbstmordattentate in den schiitischen Quartieren haben in den letzten Tagen über 200 Todesopfer gefordert. Die Zufahrtstrasse in die Hauptstadt sind blockiert. Alle 500 Meter gibt es Strassensperren. Die Täter mischen sich unter die schiitischen und sunnitischen Bauern und Gemüsepflanzer, die ihre Ware in die Stadt bringen. Unter ihnen befinden sich einige, die den Attentätern behilflich sind. Die lokalen Bauern kennen Schleichwege, um die Strassensperren zu umgehen. In einigen Häusern und Gehöften finden die IS-Leute offenbar Schutz und Hilfe. So gelingt es dem IS immer wieder, Attentäter in die schiitischen Quartiere von Bagdad einzuschleusen.
Propagandistischer Terror
Ziel des IS-Terrors in Bagdad ist es, den Graben zwischen der Bevölkerung und der Regierung zu vertiefen. Ferner versucht der IS, die schiitischen Milizen gegeneinander aufzuhetzen: die Sadr-Milizen gegen die pro-iranischen schiitischen Milizen. Verwickeln sich beide Lager in einen gegenseitigen Konflikt, so könnte der IS der lachende Dritte sein. Der Druck, dem er an den Fronten vor Mosul, in Anbar und am mittleren Euphrat und Tigris ausgesetzt ist, würde nachlassen.
Ausserdem sind Bombenanschläge ein Propagandainstrument. Sie machen klar, dass die Kämpfer "des Kalifates" nach wie vor eine Bedrohung für Bagdad darstellen - auch wenn sie grosse Teile des Territoriums, das sie im letzten und vorletzten Jahr beherrschten, verloren haben.
Handlungsunfähiges Parlament
Das gegenwärtig völlig lahmgelegte irakische Parlament ist dermassen zerstritten, dass es bisher seinen politischen Hauptaufgaben nicht lösen konnte. Es hat seit seinem Amtsantritt vor zwei Jahren über 275 Gesetze beraten, aber nur 67 davon verabschiedet. Dabei handelt es sich um wenig bedeutsame Gesetzesvorlagen. Doch die Projekte von grosser politischen Tragweite wurden aufs Eis gelegt, so die Aufstellung einer Nationalgarde. Sie würde es den Sunniten erlauben, in ihren Regionen eigene bewaffnete Einheiten aufzustellen. Zurückgestellt wurden auch
- ein neues Erdölgesetz,
- die vorgesehene Einrichtung eines Obersten Gerichtes mit der Funktion eines Verfassungsgerichtes,
- die Einrichtung eines geplanten Föderalen Rates mit den Funktionen eines Senats,
- die längst fällige Reform der Verfassung, in der auch die Frage von Zentralisierung oder Dezentralisierung und der Autonomie der unterschiedlichen Landesteile angegangen werden müsste.
Viele dieser grundsätzlichen Fragen konnten nicht gelöst werden, als unter den Amerikanern im Oktober 2005 die gegenwärtig gültige Verfassung formuliert wurde. Sie blieben "vorläufig" offen und wurden bis "nach den Wahlen" vertagt.
Vertagt sind sie nun seit über zehn Jahren.