Im Detail heisst das: heute Paris, morgen Wien und übermorgen Bayreuth. Und als Zugabe noch Gastspielorte, insbesondere New York. Der Schweizer ist ein wahrer Kosmopolit.
Mittelpunkt ist – vorläufig noch – die Pariser Oper. Hoch oben in der «Bastille» hat er sein Büro mit weitem Blick über die Stadt. 2009 ist er als musikalischer Leiter der beiden Pariser Opernhäuser Garnier und Bastille hier eingezogen. «Ich hätte es nicht einmal für möglich gehalten, dass es zehn Jahre würden», sagt er. «Am Anfang war es ein Sechs-Jahres-Vertrag mit einer eventuellen Option für neun Jahre. Nun werden es zwölf Jahre sein, wenn ich Paris verlasse …»
Stadt der Opernkenner
Mit einem Bein ist er allerdings schon weg. Und zwar in Wien. Dort wird er 2020 als Musikdirektor in die Staatsoper einziehen. Da trifft es sich gut, dass er zurzeit auch noch musikalischer Leiter der Wiener Symphoniker ist, mit denen er im November auch auf Tournee geht. So kann er seine Probenzeiten bei den Symphonikern mit der Planung der nächsten paar Spielzeiten in der Wiener Staatsoper verbinden. «Die erste Spielzeit steht schon mehr oder weniger, jetzt stecken wir mitten im zweiten Jahr», verrät er.
«Wir», das sind Bogdan Roscic, der künftige Direktor der Wiener Staatsoper, und er, Philippe Jordan. Roscic ist zurzeit Präsident von Sony Classical International und pendelt vorläufig noch zwischen New York und Berlin, bis er nach Österreich zurückkehrt, wo er aufgewachsen ist. Philippe Jordan seinerseits bringt aus Paris die Erfahrung in der Leitung eines grossen Opernbetriebes mit. Ein interessantes Team. Eines, das alle Chancen hat, sich in Wien durchzusetzen, wo sich jeder, vom Taxifahrer bis zum Bankdirektor, als Opernkenner versteht.
Freude und Wehmut
Bei aller Vorfreude auf Wien schwingt aber auch ein bisschen Wehmut mit, wenn Philippe Jordan sagt: «Eigentlich ist jetzt die beste Zeit für mich in Paris … ich kenne das Orchester sehr gut und das Orchester mich … wir haben jetzt wieder viel ‘Tristan und Isolde’ aufgeführt, und das kann man auch in Bayreuth nicht besser machen. Ich habe es in Bayreuth gesehen und es war phantastisch, was Christian Thielemann gemacht hat. Ich habe viel gelernt. Dann komme ich wieder nach Paris und merke, das Orchester liest mir vom kleinen Finger ab. Ich weiss jetzt genau, wie ich sie dirigieren muss, ohne viel zu reden. Wir spielten ‘Tristan’ neunmal hintereinander, und keine Vorstellung ist abgefallen! Das ist einfach traumhaft.»
Da fällt ihm der bevorstehende Abschied doch sicher schwer … «Natürlich!», bestätigt Philippe Jordan vehement. «Aber vor drei Jahren ist mir klar geworden, ich brauche einen Wechsel und die Pariser Oper auch. Das ist wie in der Politik. Ein Pfarrer hat mir mal gesagt, nach zwölf Jahren müsse er die Gemeinde wechseln. Das sei eine gute Zeitlänge. Das hat mir zu denken gegeben. Und einige Politiker sollten auch einmal darüber nachdenken … Es gibt ja schliesslich auch das Sprichwort, man soll gehen, wenn es am schönsten ist …»
Abschied nehmen
Aber weiss man denn immer, wann es am schönsten ist? «Das spürt man», davon ist Philippe Jordan überzeugt. «In zwei Jahren mache ich meinen dritten ‘Ring’ hier, zweimal ‘Tristan’, drei ‘Cosi fan tutte’, drei ‘Pelléas’, im Frühling mache ich meinen zweiten ‘Don Giovanni’… trotzdem habe ich viel Neues hier versucht, auch Uraufführungen wie jetzt ‘Bérénice’. Mit ‘Fürst Igor’ kommt etwas Russisches hinzu, dann ein Berlioz-Zyklus mit den Wiener Symphonikern … ich versuche, mich immer wieder neu zu erfinden. Trotzdem: nach zwölf Jahren beginnt es sich zu wiederholen. Da brauche ich neue Stimulationen, aber auch das Orchester braucht Neues und das Publikum ebenfalls.»
Abschied nehmen heisst es für ihn allerdings auch bei den Wiener Symphonikern, dem Orchester, das er nun auch bereits im fünften Jahr leitet. «Ich hätte nie gedacht, dass man mit zwei Orchestern gleichzeitig zwei Liebeserfahrungen machen kann», sagt Philippe Jordan und schwärmt von seinem Wiener genauso wie von seinem Pariser Orchester. In kürzester Zeit sei da eine tiefe Beziehung entstanden. Die Trennung habe schon etwas sehr Sentimentales … nicht nur auf der musikalischen, sondern auch auf der menschlichen Ebene. Und nun geht Philippe Jordan in Wien ausgerechnet zur Konkurrenz, denn in der Staatsoper sind es die Wiener Philharmoniker, die im Orchester spielen.
Uraufführung in Paris
Eines ist klar: Auf keinen Fall will Philippe Jordan in Routine verfallen und einfach weitermachen, weil alles wie geschmiert läuft. Ein gutes Mittel gegen die Routine ist freilich auch eine Uraufführung. Und die hatte Philippe Jordan in diesem Herbst mit «Bérénice» in der prächtigen alten Opéra Garnier in Paris. «Bérénice» ist ein Auftragswerk der Pariser Oper an den Genfer Komponisten Michael Jarrell. Dass gleich zwei Schweizer an dieser Produktion beteiligt waren, ist Zufall. «Wir machen jedes Jahr eine Uraufführung, die auf französischer Literatur basiert, diesmal war es ein Stück von Racine.» Für Philippe Jordan war es die erste Uraufführung eines neuen Werkes.
Die Konstellation war gut: Barbara Hannigan übernahm die Titelrolle, Claus Guth führte Regie. Etwas allerdings war auch für Philippe Jordan ungewohnt. «Man sieht das Partiturbild und kann sich ungefähr vorstellen, wie es klingen könnte, man analysiert die Struktur Szene für Szene, Seite für Seite. Ich weiss, wie ich es dirigieren muss, ich weiss, wie es die Sänger singen – aber ich weiss nicht, wie es klingt! Ich habe nur eine Idee davon. Und dann in den Proben hört man immer ein bisschen mehr, es ist wie ein Nebel, durch den man mit der Taschenlampe irrt und die Sicht wird immer besser … ein spannender Prozess!» Mit einem ebenso spannenden Resultat. Barbara Hannigan brilliert – turnerisch geradezu halsbrecherisch und stimmlich spektakulär – in der Rolle der jüdischen Königin Bérénice, die den römischen Kaiser Titus heiraten möchte.
Er will sie zwar auch, muss aber aus Staatsräson darauf verzichten. Die Musik ist suggestiv und eingängig, nichts Queres, nichts Sprödes, und doch zeitgenössisch. Dass alles so gut aufging, ist auch Philippe Jordan zu verdanken, der sich nicht erst im Orchestergraben einmischte, sondern bereits vorher. «Alles, was ich schon bei der Analyse festgestellt habe, also dass es beispielsweise an einzelnen Stellen schwierig für die Sänger werden könnte, das haben wir geändert und Michael Jarrell war sehr flexibel. Wagner und Verdi waren das übrigens auch zu ihrer Zeit. Nicht alles, was auf dem Papier zunächst gut aussieht, ist schliesslich auch orchestertauglich.»
Auch wenn eine Uraufführung immer aufregend ist, so stellt sich doch bei zeitgenössischen Werken heutzutage immer die Frage, wie es mit dem Stück weitergeht. Wird es auch an anderen Orten aufgeführt. «Das war in früheren Zeiten genauso», entgegnet Jordan. «Rund 60’000 Opern sind bisher geschrieben worden, das hat mal jemand zusammengezählt. Aber wie viele davon haben überlebt? Wie viele sind im Repertoire? 60, wenn man gut zählt. Und wenn man die unbekannteren Stücke, die ab und zu gespielt werden, hinzuzählt, kommt man auf 100 bis 120. Bei Uraufführungen kann man nie beurteilen, ob sie für die Ewigkeit sind oder nicht.»
Paris, Wien, Bayreuth
Obwohl Paris zurzeit noch im Mittelpunkt seiner Tätigkeit steht, schreitet die Planung für Wien immer weiter voran. «Eigentlich habe ich drei Jobs zurzeit», sagt er. «Wien, Paris, und Bayreuth, denn dort geht es ja auch weiter… das heisst: viel telefonieren, viel über Besetzungen und Probenpläne sprechen, Vorsingen organisieren, und es geht ja nicht nur um Opern, die ich selbst leite, sondern auch um den restlichen Spielplan. Das muss alles jetzt gemacht werden, denn in der Oper plant man langfristig.»
Und was sind denn nun – opernmässig gesehen – die Unterschiede zwischen Wien und Paris? «Es sind zwei völlig verschiedene Systeme. Wien ist ein Repertoire-Betrieb mit zurzeit über 60 Titeln pro Jahr. Wien besitzt auch ein Ensemble mit etwa 60 Leuten; es gibt also enorm viel Personal dort am Haus. Gleichzeitig bietet ein eigenes Ensemble viel Flexibilität, die wir hier in Paris nicht haben. Hier spielen wir pro Jahr etwa 25 Opern, dazu 20 Ballett-Produktionen, aber alles ohne eigenes Ensemble. Das bedeutet mehr Proben, denn jedes Stück wird neu besetzt. Ausserdem haben wir hier in Paris mit der Bastille und der Opéra Garnier zwei Häuser, in Wien nur eines. Es sind also zwei völlig unterschiedliche Betriebssysteme.»
Als ob das alles noch nicht genug wäre, steht im Frühling auch noch ein ganzer «Ring des Nibelungen» an der New Yorker Met auf Philippe Jordans Terminkalender. «Ja, das wurde schon vor Wien abgemacht …» Philippe Jordan sagt es fast entschuldigend. «Aber wenn einem die Met den ‘Ring’ anbietet, kann man doch nicht ablehnen … Dann bin ich drei Monate in New York, mache nur Musik und muss mich sonst um nichts kümmern. Das ist doch auch mal wunderbar!»
Zum Abschied die «Götterdämmerung»
Fast könnte man es schon als Generalprobe für seinen Abschied von Paris ansehen, denn zuletzt steht dort ebenfalls noch einmal der «Ring» auf dem Spielplan der Bastille. Und Philippe Jordans letzte Vorstellung wird die «Götterdämmerung» sein. «Ich freue mich sehr, dass wir den ‘Ring’ auch in Paris noch einmal bringen. Damit hatte ich hier angefangen. Damals war es eine Art Versprechen, jetzt wird es sozusagen die Einlösung …» Bis dahin soll es aber auch noch ein paar Gastspiele mit seinem Pariser Orchester geben, vielleicht noch eine CD, wer weiss?
Nach unserem Gespräch geht Philippe Jordan in der Bastille erst einmal in die Masterclass, wo junge Gesangs-Absolventen «Die Fledermaus» üben. «Ihr müsst raus aus der Komfortzone der Académie und jetzt mit einem Dirigenten arbeiten», erklärt er ihnen, und ein ganzer Saal voller Publikum hört gespannt zu. Gesungen wird von «Klängen der Heimat», vom Ungarnland, vom Sehnen und von Nostalgie. Philippe Jordan seziert minutiös Note für Note, Wort für Wort und singt auch mal vor. «Plus fort», ruft er, «Plus dramatique …!» «’Heimat’. Achtung, das ‘h’ muss man hören!» Es geht auch um korrekte deutsche Aussprache bei den jungen Franzosen. Einer Sängerin bringt er gar Ottakringer Slang bei. Andere lernen, dass es zwar «Marquis» heisst, das «s» am Schluss also nicht ausgesprochen wird, «Paris» auf Deutsch allerdings ein deutliches «s» am Schluss hat. Nach zwei Stunden ist der Pariser Akzent in der «Fledermaus» fast ganz verschwunden. Und musikalisch perlt es wie Champagner.
Zeit für Feierabend. Mit oder ohne Champagner …