Im Januar 2002 eröffneten die USA das Militärgefängnis in Guantánamo Bay, um «enemy combatants» im Krieg gegen den Terror zu inhaftieren. Das einstige Gefangenenlager ist heute ein modernes Hochsicherheitsgefängnis. Obwohl Präsident Barack Obama bei Amtsantritt 2009 versprochen hat, die Installation auf Kuba zu schliessen, gibt es «Gitmo» nach wie vor. Dessen prominentester Häftling ist Khalid Sheikh Mohammed, der mutmassliche Drahtzieher der Anschläge vom 11. September 2001, bei denen in New York City, Washington DC und Pennsylvania gegen 3’000 Menschen starben.
Auch «harmlose» Gefangene kommen nicht frei
Von den insgesamt 779 Inhaftierten, die in Guantánamo Bay einsassen, sind inzwischen mehr als drei Viertel frei gekommen, die meisten noch während der Amtszeit von George W. Bush. Derzeit zählt das schwer bewachte Militärgefängnis an der Südküste Kubas noch 172 Insassen. Seit 2007 sind keine neuen Gefangenen mehr eingetroffen, obwohl einige Republikaner im Kongress fordern, die Regierung Barack Obamas solle auch künftig Terrorverdächtige in «Gitmo» inhaftieren.
Die 172 verbliebenen Gefangenen gelten laut offiziellen Dokumenten, die WikiLeaks beschafft hat, als «hoch riskant», d.h. im Falle einer Freilassung als Gefahr für die Sicherheit der USA und deren Alliierte. Gleichzeitig zeigen die über 700 Geheimunterlagen auch, dass seinerzeit mehr als ein Drittel der rund 600 Freigelassenen so eingestuft worden sind. Hingegen kategorisiert das US-Militär etliche der gegenwärtigen Häftlinge als harmlos. Trotzdem kommen sie aus unerfindlichen Gründen nicht frei. «No Comment», heisst es lapidar auf entsprechende Anfrage hin.
Die amerikanische Regierung sagt heute, sie wisse mit Sicherheit, dass sich derzeit rund 16 Prozent der früheren Insassen Guantánamos wieder im Krieg gegen die USA befänden. Andere Quellen in Washington DC vermuten, dass dieser Prozentsatz in Wirklichkeit höher liegt – bei 28 Prozent. Der Hass der Häftlinge ist wohl zumindest nachvollziehbar, sind doch etliche unter ihnen aufgrund von falschen Informationen, verwechselten Identitäten oder einfach von Pech in Guantánamo gelandet.
Unhaltbare Haftgründe und Menschenrechtsverletzungen
Zum Beispiel etwa jener afghanische Hirte namens Sharbat, Gefangener Nr. 1051, der im Mai 2003 nach der Explosion eines Sprengsatzes festgenommen wurde, obwohl er sich nur zufällig in der Nähe des Tatorts befand. Zwar kamen Verhörbeamte und Analysten zum Schluss, dass Sharbat in der Tat nur ein Hirte und kein Terrorist sei. Das hinderte ein Militärtribunal aber nicht daran, ihn als «enemy combatant» einzustufen und drei Jahre lang in «Gitmo» einzuschliessen.
Der «New York Times» zufolge zeichnen die vor zwei Jahren aufgetauchten Dokumente Guantánamo Bay als «eine dauerhafte amerikanische Institution», indem sie «den Flickenteppich und die widersprüchlichen Indizien» offenlegten, die in vielen Fällen der näheren Überprüfung durch ein ordentliches Gericht oder Militärtribunal nicht standgehalten hätten. Dabei verraten die Unterlagen fast nichts über all die Fälle «harscher Verhörmethoden», die Menschenrechtsorganisationen weltweit als Folter angeprangert haben.
Rekrutierung von Doppelagenten
Ausserdem haben Recherchen der Nachrichtenagentur AP jüngst ergeben, dass es zwischen 2003 und 2006 in Guantánamo noch ein ganz spezielles Gefängnis innerhalb des Gefängnisses gab: zwei Viererreihen kleiner Bungalows, versteckt hinter einer mit dichten Büschen und Kakteen bewachsenen Anhöhe und nur wenige Hundert Meter vom Militärgefängnis entfernt. Dort lebten, in relativem Komfort, jene angeblichen Terroristen, die der amerikanische Geheimdienst (CIA) als Doppelagenten einzusetzen hoffte.
Laut AP ist das in einzelnen Fällen gelungen: Einige Terrorverdächtige wurden in ihre Heimatländer zurückgeschickt, um sich erneut al-Qaida anzuschliessen und der CIA Informationen zu liefern, die es den USA erlauben sollten, als «hochwertig» eingestufte Individuen zu lokalisieren und zu töten. Der Lohn für den Verrat: viel Geld sowie das Versprechen des Dienstes, für ihre Sicherheit und die ihrer Familien besorgt zu sein, inklusive der Beschaffung neuer Identitäten.
«Das Marriott» in Guantánamo
Die Mittel für das Geheimprojekt, die sich im Laufe der Jahre auf Millionen Dollar beliefen, stammten aus einem geheimen Fonds der CIA. Zudem genossen die für das Programm rekrutierten Gefangenen in Guantánamo eine Sonderbehandlung: Sie durften, zwar nach wie vor von Marineinfanteristen bewacht, in den relativ gemütlichen Bungalows hausen, statt auf dünnen Matten in Betten mit Matratzen schlafen, fernsehen, kochen, duschen und in einzelnen Fällen Pornographie konsumieren.
CIA-Mitarbeiter nannten die Ansammlung von Bungalows, die mehr Hotelzimmern als Gefängniszellen glichen, scherzhaft «das Marriott». Selbst George W. Bush interessierte sich seinerzeit für das Geheimprojekt und sprach persönlich mit einem CIA-Agenten darüber, der aus Afghanistan zurückgekehrt war, wo der Geheimdienst Kontakte zu einheimischen Agenten pflegte.
Ausser Spesen nichts gewesen?
Die CIA selbst mag das Projekt in Guantánamo Bay nicht kommentieren. Ehemalige US-Agenten aber zeigen sich wenig überrascht. Es sei, sagt einer unter ihnen, schlicht der Job eines Geheimdienstes, Informanten zu rekrutieren. Einzelnen Quellen zufolge ist es der CIA in der Tat gelungen, mit Hilfe von Doppelagenten hochrangige mutmassliche Terroristen auszuschalten.
Es habe aber, heisst es in einschlägigen Kreisen, auch Fälle gegeben, in denen frühere Gefangene schlicht untertauchten und nie mehr gesichtet wurden: Ausser Spesen nichts gewesen. Doch gebe es keine Indizien dafür, dass sich Doppelagenten erneut hätten umdrehen lassen und Amerikaner getötet hätten. US-Regierungsvertretern zufolge endete das Programm 2006, als nur noch wenige Gefangene auf Kuba eintrafen. Doch die acht Bungalows auf dem eingezäunten Gelände zwischen Bäumen und Büschen sind heute noch auf Satellitenaufnahmen zu sehen.
Keine Drohnen gegen Agenten in Amerikas Sold
Präsident Barack Obama indes ordnete 2009 an, all jene Fälle zu überprüfen, in denen Doppelagenten aus Guantánamo nach wie vor im Umkreis von al-Qaida aktiv waren. Zum einen dürfte das Terrornetzwerk Rückkehrern gegenüber äusserst skeptisch eingestellt gewesen sein. Zum andern wollte das Weisse Haus anscheinend sicher gehen, im Falle von Drohnenangriffen auf Terrorverdächtige keine Leute zu töten, die im Solde Amerikas standen.
Soviel Rücksicht zeigen die USA anderen Zivilisten gegenüber nicht. Seit 2004 haben amerikanische Drohnen in Pakistan, je nach Definition und Quelle, zwischen 258 und 926 unschuldige Menschen getötet. Im Jemen sind seit 2002 zwischen 64 und 106 Zivilisten gestorben. Im schlimmsten Fall wäre in Pakistan rund jedes dritte Opfer von Drohnenattacken ein Zivilist, im Jemen fast jedes fünfte. Noch aber lässt Barack Obama, der anlässlich einer wöchentlichen Sitzung persönlich jeweils über Ziele auf der «kill list» informiert wird, keine Bereitschaft erkennen, die Drohnenangriffe zu stoppen.