Schweigen war nie eine Option. Die Worte, die Leonhard Ragaz 1937 wählte, sind für ihn typisch – polemisch, prophetisch und patriotisch zugleich: „Wir sind damit schon im helvetischen dritten Reich. Eine Haussuchung hatten wir auch schon und gewärtigen das Weitere. Es ist uns wieder nicht bange für uns, aber wir schämen uns für die Schweiz.“ Anlass gaben die behördlich angeordneten Verdunkelungsübungen in Zürich. Ragaz sah darin nichts anderes als einen Vorstoss des Militarismus, eine Lüge, die falsche Sicherheit vortäuscht, Kriegsfatalismus.
Das Haus an der Gartenhofstrasse 7 in Zürich-Aussersihl, das mit ihm zum Zentrum des religiösen Sozialismus und der ArbeiterInnenbildung geworden war, blieb hell erleuchtet. Die Konsequenzen – juristische Verfahren und politische Ausgrenzung – nahm er zusammen mit seiner Frau und Gefährtin Clara Ragaz-Nadig auf sich.
Clara war in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine der bedeutendsten Feministinnen und Pazifistinnen der Schweiz. Sie verfügte über ein eigenes Netzwerk von Verbündeten in ganz Europa. Während des Zweiten Weltkriegs bot sie einigen von ihnen in ihrem Haus zusammen mit ihrem Mann und ihrem Freundeskreis Asyl. Den Namen Ragaz haben viele Menschen in der Schweiz über Jahrzehnte mit dem gewaltfreien Widerstand gegen die Verdunkelung und die Anpassung an den Nationalsozialismus verbunden.
Dorfkommunismus und Arbeiterbewegung
Das politische Handeln für eine gerechte, sozialistische Gesellschaftsordnung war für Leonhard Ragaz ein Leben lang eine Frage der Nachfolge von Jesus Christus. Sein Lebensweg führte ihn vom Bergdorf über Pfarr- und Professorenhäuser mitten in ein städtisches ArbeiterInnenquartier.
Ragaz ist als Sohn einer Kleinbauernfamilie in Tamins in Graubünden geboren worden. Die solidarische Zusammenarbeit in der Dorfgemeinschaft prägte ihn. Vieles war genossenschaftlich organisiert. Ragaz sprach später vom Dorfkommunismus. In seinem um 1918 in mehreren Auflagen publizierten Buch „Die neue Schweiz“ entwarf er das Programm eines basisdemokratischen Genossenschafts-Sozialismus. Man könne nicht „politisch freie Menschen haben, die sozial unfrei sind“. In der Gemeinwirtschaft suchte Ragaz eine radikale Alternative zum Kapitalismus – für ihn ein System von Gewalt, Egoismus und Ausbeutung. Ebenfalls aus seinen Wurzeln heraus versteht sich sein konsequentes ökologisches Engagement. Auch hier war er anderen TheologInnen um Jahrzehnte voraus und bleibt heute neu zu entdecken.
Schritt für Schritt näherten sich Ragaz und die ArbeiterInnenbewegung einander an. Zum Abschied von seinem Pfarramt in Chur schenkten ihm die Arbeiter des Grütlivereins „Das Kapital“ von Karl Marx. Als Münsterpfarrer in Basel ergriff er in einer Predigt 1903 Partei für streikende Maurer. 1908 wurde er als Theologieprofessor an die Universität Zürich berufen. In dieser Position solidarisierte er sich 1912 mit streikenden ArbeiterInnen. Einer seiner Artikel wurde als Flugblatt in einer Auflage von 100’000 Exemplaren unter die Leute gebracht und machte ihn zum Feind des Bürgertums. Ein Jahr später trat er der SP bei und stellte sich im Landesstreik von 1918 an die Seite der Streikenden: „Der Glaube an Christus und das kommende Reich Gottes (…) schliesst alle höchsten und radikalsten sozialistischen Verheissungen und Forderungen ein.“
Reich Gottes und Befreiung
Seinen Kampf für revolutionäre Umwälzungen in der Zeit des Ersten Weltkriegs und der Revolution in Russland führte er am linken Flügel der Sozialdemokratie. Von der Dritten Internationalen, angeführt von Lenin, grenzte er sich jedoch scharf ab: Gewaltglauben und Militarismus waren für Ragaz in jedem Fall Verrat am sozialistischen Ideal.
Seine Stelle als Uniprofessor kündigte er 1922. Vom Zürichberg zog seine Familie hinunter nach Aussersihl. Statt gutgestellte Studierende wollte er ArbeiterInnen bilden. Publizieren wollte er in aller Freiheit, unabhängig von Institutionen.
Sein grösstes Werk verfasste er am Ende seines Lebens, während des Zweiten Weltkriegs: „Die Bibel – eine Deutung“. In sieben Bänden stellte er die Bibel als ein Buch der Befreiung dar. Der Befreiungstheologe avant la lettre spurte in seiner Verschränkung von politischem Aktivismus und theologischer Arbeit vieles vor, was Jahrzehnte später vor allem in Lateinamerika als „Theologie der Befreiung“ wirksam werden sollte.
Ragaz’ Thema war die Botschaft vom Reich Gottes und seiner Gerechtigkeit für die Erde: Eine andere, eine bessere Welt ist möglich, wenn Menschen da sind, die den Verheissungen des Reiches Gottes im Diesseits den Weg bereiten. MitarbeiterInnen Gottes sind für Leonhard Ragaz nicht in erster Linie KirchgängerInnen – von der Institution hatte er sich weit entfernt –, sondern ebenso humanistische AtheistInnen, revolutionäre SozialistInnen, gute Eid-GenossInnen.
Ragaz verstand die Bibel als ein Ganzes, als Buch der jüdischen messianischen und prophetischen Tradition. Auch hier war er der Mainstream-Theologie seiner Zeit – einer düsteren, von Antisemitismus durchwachsenen Periode – weit voraus. Martin Buber, auch er religiöser Sozialist, schrieb nach dem Tod von Ragaz im Dezember 1945: „Er war der echteste Freund, den das jüdische Volk in unserer Zeit besessen hat.“ Ragaz war über Jahrzehnte mit dem grossen Religionsphilosophen und weiteren jüdischen Denkerinnen verbunden. In der Tat führte er eine vertiefte Korrespondenz vor allem mit Frauen, die in ihren religiösen Traditionen und politischen Bewegungen unkonventionelle Wege einschlugen.
Schweigen geht nicht
Anlässlich seiner Weigerung in den 1930er-Jahren, auf behördliches Geheiss die Lichter zu löschen, schrieb Ragaz, dass Militarismus – und darin schloss er Nationalismus und faschistische Tendenzen ein – auch in der Schweiz „in der grossen Verdunkelung weniger der Luft als der Seelen gipfelt“.
Mit moralisch und analytisch spitzer Feder äusserte er sich regelmässig in der Zeitschrift „Neue Wege“, die er 1906 mitbegründete. 1941 wurde die Zeitschrift unter Vorzensur gestellt, weil Ragaz, so die Behörden, „regelmässig die schweizerische Neutralitätspolitik kritisiere“; er „verhöhne (...) die schweizerische Wehrbereitschaft“.
Der politische Theologe verweigerte sich der Anpassung und Zensur und ging mit seiner Publikation in den Untergrund. Manuskripte wurden in verschlossenen Couverts verschickt. Erst im Sommer 1944 erschien die Zeitschrift wieder legal. In seinem Rekurs gegen die Verhängung der Vorzensur schrieb Leonhard Ragaz: „Für mich ist Reden und Schreiben Wahrheitsdienst.“ Es gehe darum, „die Stimme zu erheben, wenn göttliche und menschliche Ordnung verletzt wird, wo Gerechtigkeit, Freiheit, Menschlichkeit mit Füssen getreten werden; es bedeutet, es als Sünde zu empfinden, demgegenüber zu schweigen. Weil ich so empfinde, meine Herren, darum rede ich, auch da, wo Sie das Schweigen lieber sähen und dieses mir selbst auch bequemer wäre.“
Matthias Hui ist Co-Redaktionsleiter der Zeitschrift Neue Wege, die Leonhard Ragaz vor 112 Jahren mitbegründet und über Jahrzehnte geprägt hat. Die Zeitschrift erscheint seit 2018 in erneuertem Design mit dem veränderten Untertitel „Religion. Sozialismus. Kritik“.