Das von der Ehefrau Egon Bahrs, Adelheid Bahr, herausgegebene Buch versammelt 26 Autoren in ihrem Plädoyer für „Frieden und Freundschaft“ mit Russland, darunter Politiker wie Sigmar Gabriel, Wolfgang Kubicki und Oscar Lafontaine, Publizisten wie Wolfgang Bittner, Daniela Dahn und Gabriele Krone-Schmalz, Wissenschaftler wie Peter Brandt und Joachim Spanger, aber auch den Dirigenten Justus Frantz, um nur einige Namen zu nennen. Angesichts solcher Prominenz enttäuscht der Band in seiner Pauschalität der Urteile und Vorurteile auf ganzer Linie, ausgenommen die differenzierteren Töne bei Gabriel und Kubicki.
Wer wünscht sich in Deutschland nicht Frieden mit dem grossen Nachbarn? Wer würde ihn nicht gerne seinen Freund nennen, auch und gerade unter denen, die die russische Politik von heute kritisieren? Während sich eine Vielzahl der Beiträge empört zeigt über das negative Russlandbild, das angeblich von unserer Presse entworfen wird, fehlt es nicht an Verschwörungstheorien über den bösen Westen, insbesondere die USA. An Einseitigkeit ist der Band nur schwer zu überbieten. In ihrer Medienschelte – dort sei man „einer geradezu infantilen Hysterie verfallen“ (Bröckers, S. 54) oder „fröne … einem hochtrabenden und unreflektierten Russland-Bashing“ (Kiessler, S. 101) – bedienen sich nicht wenige Texte populistischer Sprachfiguren. Wenn die Anmahnung demokratischer Rechte als „moralischer Imperialismus“ (Kiessler, S. 104) abqualifiziert wird, kommt das einer glatten Verhöhnung von Willy Brandt gleich, auf den sich die Autoren doch so gerne berufen.
Klarstellung zu Willy Brandts Ostpolitik
Zu Anfang eine einfache, aber offenbar nötige Klarstellung: Willy Brandts Politik hiess nicht neue Russland-Politik, sondern neue Ostpolitik. Und zum Osten Europas gehört nicht nur die zerbrochene Weltmacht, sondern gehören alle Nationen östlich von Deutschland – die Polen, die Tschechen und Slowaken, die baltischen Länder, die Ukraine und viele mehr. Es war in Warschau, dass Brandt auf die Knie ging. Von Warschau aus sprach er an die Deutschen. Kein Wort davon in dem vorliegenden Band. Im Sinne alter deutscher Grossmachtpolitik kommen die „kleineren“ Völker einfach nicht vor. Und wenn doch, dann als Störenfried. Das ist ungeheuerlich. Nur Russlands Macht und Grösse zählen. Haben die Autoren je überlegt, wer da ihre Ahnherren sind?
Die Anerkennung der europäischen Nachkriegsgrenzen in den Ostverträgen hatte Polen und die Tschechoslowakei als ihr Gegenüber, was das nördliche Ostpreussen betrifft, auch die UdSSR. Innerhalb der Bundesrepublik kam sie mit der Anerkennung der historischen, deutschen Schuld einer Revolutionierung unserer politischen Kultur gleich. Ohne jede Frage besteht die Schuld auch gegenüber Russland. Aber eben nicht nur. In Polen hat das Deutsche Reich nahezu ein Viertel der Einwohner umgebracht. Die Ukraine hat den höchsten Blutzoll im 2. Welt-krieg bezahlt.
Vor diesem Hintergrund verraten die abfälligen Urteile über die Ukraine und das Vergessen der Völker zwischen Deutschland und Russland viel über die Geschichtslosigkeit der Autoren. Sie wird geradezu zum Hohn, wenn die russische Annexion der Krim 2014 als „Wiedergutmachung historischen Unrechts“ bezeichnet wird (Frantz, S. 89). Die Überschreibung der Halbinsel an die Ukraine durch Nikita Chruschtschow 1954 war ausdrücklich (auch) ein Dank Russlands für die Opfer, die die Nachbarrepublik im Krieg erbracht hatte. 1991 stimmte im Übrigen die Mehrheit der Krimbevölkerung für die Unabhängigkeit der Ukraine. In dem Sammelband wimmelt es an derartigen Verdrehungen der Geschichte.
Staatsfixierung und antiwestlicher Reflex
Noch einmal zurück zu Willy Brandts Entspannungspolitik. Wie sie einen „Wandel“ in unserem (deutschen) Bewusstsein herbeiführte, wollte sie auch einen „Wandel“ im östlichen Europa befördern. Der Abbau politischer und militärischer Konfrontation zielte darauf, auf beiden Seiten des „Eisernen Vorhangs“ die Bewegungsräume und inneren Freiheiten zu erweitern. Notwendigerweise agierte die Ostpolitik auf der Ebene von Staaten, doch hatte sie auch die Gesellschaften im Blick. Darin lag ihre ungewöhnliche Ausstrahlung, die freilich, wie Sigmar Gabriel klug notiert, in den achtziger Jahren verlorenging (Gabriel, S. 95).
Fraglos half der KSZE- und Helsinki-Prozess, eine neue Vertrauensgrundlage zwischen Ost und West zu schaffen. Die Entspannung jedoch zum Ausgangspunkt der Menschen- und Bürgerrechtsbewegungen zu machen, ist zu viel der Ehre (Spanger, S. 168). Es wäre eine groteske Geschichtsklitterung, die genuinen Leistungen der Gesellschaften Osteuropas in den siebziger und achtziger Jahren an den Hut der westlichen Diplomatie zu stecken. Die Architekten des neuen Europas waren zunächst die freiheitsliebenden, widerständigen Akteure Mittel- und Osteuropas. Sie fehlen als Referenzgrösse in dem Band ebenso wie die friedlichen Revolutionen von 1989 bis 1991. Wladimir Putin scheint da vielen attraktiver.
Mit der Macht- und Staatsfixierung der Autoren kombiniert sich ihr Antiwestlertum. Es war – so der Grundtenor vieler Beiträge – der Westen, der Russland in den neunziger Jahren ruiniert und seine Schwäche ausgenutzt hat. Die wilde Privatisierung mit ihren katastrophalen sozialen Folgen erscheint als amerikanische Strategie. Wohl gab es US-Berater, doch wurde die Politik von russischen Ökonomen definiert und nicht zuletzt in den Bahnen der alten Nomenklatura exekutiert.
Hat Putin die Korruption aufgehoben?
Ich kannte damals Anatol Tschubajs, den verantwortlichen Minister, und stritt mit ihm bitterlich über seinen, aus meiner Sicht – falschen Weg. Auch deutsche Unternehmer und ranghohe Politiker warnten. Nein, das waren fatale russische Entscheidungen, keine Hinterlist des Westens. Putins so hochgelobte Ordnung hat im Übrigen weder die extrem ungleiche Einkommensverteilung noch das Oligarchennetz noch die Korruption aufgehoben, wenngleich zugunsten regimetreuer Funktionseliten verschoben.
Doch warf der Westen in der Lesart des Buches nicht nur die russische Wirtschaft zu Boden. Mit der Erweiterung der NATO kreiste er Russland auch ein und machte das östliche Europa zu einem „Aufmarsch“-Gebiet (Wimmer, S. 185 und 187) gegen die frühere Weltmacht. Wiederum sind die historischen Sachverhalte bei weitem nicht so simpel. Gleich nach dem Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums gab es grosse Hoffnungen auf ein gesamteuropäisches Sicherheitssystem. Ich selbst träumte auch von ihm. Doch setzten beide Seiten in der Realität andere Prioritäten.
Die Balkankriege überdeckten die Visionen der Charta von Paris. Die Morde von Srebrenica erschütterten die Welt. Das von Russland gestützte Serbien schürte die Konflikte. Zuvor schon hatte der erste Tschetschenienkrieg Jelzins viele Illusionen über den Bau der „einen“ Welt ohne Gewalt begraben. Wie für uns im Westen das Bombardement Grosnyjs durch die russische Luftwaffe zu einem Faktor der Entfremdung von Russland wurde, so wirkte in umgekehrter Richtung das Bombardement Belgrads durch die NATO in der russischen Bevölkerung. Europa verlor Zug um Zug seine gemeinsame Sprache.
Warum Polen in die Nato drängte
Gleichzeitig drängten die Völker Mitteleuropas in die NATO – nach ihren geschichtlichen Erfahrungen wollten sie insbesondere unter den Schutz der USA. Ich war damals wiederholt in Warschau und fand keine überzeugenden Argumente, den Polen, die 1939 von Deutschland überfallen worden waren und nach 1945 gegen ihren Willen unter sowjetischer Hegemonie leben mussten, zu sagen: mit Rücksicht auf Russland könnten sie nicht den gleichen Sicherheitsstatus erwerben, den wir Deutsche besassen. Das, was viele der Autoren in dem Sammelband nahelegen, eine Verständigung mit Russland über die Köpfe der mitteleuropäischen Nationen hinweg, bewegt sich in Grossmachtkategorien des 19. Jahrhunderts, auch wenn sich die Autoren dessen nicht bewusst sein mögen.
Glaubt man dem Tenor des Sammelbandes, streckte Putin immer wieder seine Hand aus (Müller, S. 128), während der Westen es darauf angelegt habe, nach der Osterweiterung der NATO nun die Ukraine zu destabilisieren (Lafontaine, S.123) oder ihre „Westwendung“ zu erzwingen (Roggemann, S. 141). Im Unterschied dazu charakterisiert Sigmar Gabriel das heutige Russland als „eine revisionistische Macht“ (S. 92) und Putin als „keinen Status-quo-Politiker“ (S.93) – er verändere Grenzen, breche Verträge und betreibe Grossmachtpolitik. Doch bleibt Gabriel eine einsame Stimme in der Ausgabe.
Der Maidan als amerikanische Inszenierung
Der Maidan in Kiew wird als amerikanische Inszenierung oder als Brigade bewaffneter Kommandos hingestellt. Das Zerrbild unterscheidet sich nicht von der Propaganda des Kremls. Was jedoch für mich am verblüffendsten ist: Autoren, die sich selbst im gesellschaftskritischen Milieu verorten, zeigen ein totales Unverständnis für Sozial-, Protest- und Freiheitsbewegungen. Wenn sie nicht in ihr ideologisches Cluster passen, können sie nur ferngesteuert sein. Wer war denn von denen, die so herablassend urteilen, auf dem Maidan? Wer hat denn mit Akteuren, die die überwältigende Mehrheit der Maidan-Bewegung repräsentierten, gesprochen?
Alles ist klar: Revolutionen, die dem eigenen Weltbild zuwiderlaufen, sind Machenschaften von Hintermännern, am besten des CIA. Selbst wenn es Unterstützungsgelder von aussen gegeben haben sollte, wäre das so schlimm für eine Demokratiebewegung? Hat nicht die SPD über Jahrzehnte die Gegner Francos mitfinanziert und damit einen grossen Dienst für Spanien geleistet? Willy Brandt jedenfalls, dessen Biographie auch eine Widerstandsbiographie ist, bekannte sich dazu.
Putins Grenzen und die eigenen Grenzen
Spangers Plädoyer, das Russland Putins als das zu nehmen, was es ist und „vorläufig so bleiben wird“ (S.168), erweckt den Anschein, uns auf den Boden der Tatsachen zu stellen. Sein „pluraler Frieden“ übersieht freilich, dass Pluralität im Innern friedensfördernd sein kann und umgekehrt, die Unterdrückung von Pluralität kriegstreibend. In der Konsequenz läuft er Gefahr, hegemoniale Strukturen zu zementieren, Russlands Machtanspruch gegenüber seinen Nachbarn anzuerkennen und die Ordnung gutzuheissen, die Russlands Bomben in Syrien schaffen.
Um jedes Missverständnis auszuschliessen: Frieden ist ein kategorischer Imperativ der deutschen Politik. Wie aber sprechen wir mit jemandem, der den Frieden in Europa zerstört und Verträge bricht, die wir gemeinsam und feierlich mit ihm unterschrieben haben? Wir reden und verhandeln mit ihm dennoch, auch wenn wir wissen, dass er sich als unser Gegner erweist. Allerdings ist es zwecklos, ihn umwerben zu wollen, wie viele der Texte in erschreckender Naivität meinen. Vielmehr müssen wir ihm unsere, aber auch seine Grenzen zeigen, Grenzen, die sich aus dem Völkerrecht und den Rechten der kleineren, eben nicht so mächtigen Staaten ergeben. Ihre Anerkennung ist die Grundlage, um aus Gegnerschaft eine Partnerschaft zu machen.
Um es zugespitzt zu formulieren: ich will kein Freund eines Präsidenten sein, der Aleppo in Schutt und Asche legt und Krieg gegen die Ukraine führt, obgleich ich die Kultur seines Volkes liebe – und weiss, dass sich viele russische Künstler und Intellektuelle seiner schämen. Der Bahr’sche Band vermischt alles: Weil Russland eine grosse Kultur hat, müssen wir uns mit seinen autoritären Führern verständigen. Oder anders gefragt: Mussten die demokratischen Kräfte der dreissiger Jahre des vorigen Jahrhunderts mit den Machthabern des Deutschen Reiches Freundschaft schliessen, weil sie Thomas Mann oder Carl von Ossietzky schätzten? Historische Gleichsetzungen sind damit nicht impliziert.
Die Ukraine, Polen und die baltischen Staaten vergessen?
Zurück zur Realpolitik: Woher wissen wir, dass Wladimir Putin die europäischen Demokratien, die die die Einigung des Kontinents suchen, überhaupt als Partner haben will? Wir sind nützlich als Abnehmer von Gas und Lieferant von Technologie, aber kein gleichwertiger Partner in einer Welt, in der sich Putin an den USA und China misst. Sein weltpolitisches Gewicht erhöht er durch Konfrontation. Peter Brandts Idee einer Wirtschaftsunion vom Atlantik bis zum Pazifik folgt, wenn überhaupt, imaginären Kapitalinteressen (S. 50). Im Sinne seines Vaters wäre es, für einen Freiheits- und Rechtsraum zu kämpfen. Dieser aber steht, wenn wir an „pluralen Frieden“ denken, nicht zur Diskussion. Im Übrigen ist es albern zu glauben, wir Deutsche könnten Putin gegen Trump ausspielen. Das sind völlig ungedeckte Machtphantasien. Sie würden Europa zerreissen.
Damit komme ich zur grössten Schwäche des Bandes: Er ist gänzlich ohne Perspektive, einerlei, ob ich sie realpolitisch oder emanzipatorisch definiere. Kein einziger Beitrag diskutiert auch nur im Ansatz, was wir tun sollen und tun können, um die Idee eines vereinten Europas, eines „europäischen Hauses“ in Frieden und Freiheit voranzubringen. Gut, wir opfern die Ukraine und das Völkerrecht, wir kreisen allein um Russland, Polen und die baltischen Staaten existieren für uns nicht. Wir wissen, in Russland steht nicht alles zum Besten mit der Demokratie, aber das Land ist auch nicht für die Demokratie geschaffen (Egon Bahr).
Doch was dann? Wir pflegen unsere „Freundschaft“ mit Putin – und wissen gleichzeitig, dass er seine Allianzen in Europa mit den Europagegnern und Populisten ausbaut, um unsere Schwäche fortzuschreiben. Natürlich müssen wir mit ihm sprechen, aber wir müssen wissen, dass er im fundamentalen Gegensatz zu unseren Werten und Interessen der europäischen Demokratie und Einigung agiert. Putin steht rechts. Doch Russland ist tausendmal reicher als er – darin liegt eine grosse Hoffnung.
*Der Autor ist emeritierter Professor für Politik und Zeitgeschichte Osteuropas an der Universität Bremen. Er war Gründer der Forschungsstelle Osteuropa an der gleichen Universität und lebt in Bremen.Der obige Text ist zuerst vom Zentrum Liberale Moderne, Berlin publiziert worden.
Der Titel des besprochenen Buches lautet: „Warum wir Frieden und Freundschaft mit Russland brauchen“, herausgegeben von Adelheid Bahr. Westend Verlag, Frankfurt am Main 2018.