Schneit es schon? Oder sieht es nur so aus, an diesem düsteren, nasskalten Abend in Luzern? Egal. Gabriela Montero kümmert es nicht. Wir sitzen im dritten Stock des KKL mit Blick auf den Vorplatz des Bahnhofs. Bunte Lichter, Feierabendbetrieb, alles spiegelt sich in der Nässe auf der Strasse.
Gabriela Montero ist ganz entspannt und freut sich auf ihr Konzert am nächsten Abend. Sie wird Schumann und Schostakowitsch spielen. Aber auf dem Programm steht auch Chick Corea, der amerikanische Jazz-Pianist und Komponist. Und natürlich ihre eigenen Improvisationen.
Ein besonderes Talent
Wie hat sie überhaupt gemerkt, dass sie ein besonderes Talent dafür hat, Melodien wie aus dem Nichts einfach so zu spielen? Gabriela Montero muss nicht nachdenken. «Improvisationen waren seit jeher ein Teil meines Spiels», sagt sie. «Ich dachte, das ist ganz normal …»
Dann, 2001, hat sie ebenfalls am Klavier improvisiert und phantasiert, so, wie sie es eben «ganz normal» fand. Aufmerksame Zuhörerin war damals die grosse Martha Argerich, die Altmeisterin unter den Pianistinnen. Martha Argerich war total begeistert von dem, was Gabriela Montero da auf dem Klavier zusammenzauberte. «Sie kam zu mir und sagte, dass dies ganz bedeutend und sehr speziell sei, was ich da mache. Ich war mir dessen gar nicht bewusst …» Das ist nun schon einige Jahre her, aber Gabriela Montero scheint noch heute darüber zu staunen, dass das, was sie für normal hielt, ein aussergewöhnliches Talent ist.
Vom Improvisieren ist es nur noch ein Schritt zum Komponieren. Würde es Gabriela Montero nicht reizen, selbst Stücke zu schreiben? Sie strahlt: «Natürlich! Ich bin gerade dabei, ein Klavierstück zu komponieren! Und 2011 wurde ’ExPatria’ uraufgeführt, das ist ein Klavierkonzert mit Orchester. Es war meine erste Komposition und es geht dabei um die Geschichte meines Landes.»
Problem-Heimat Venezuela
Bei diesen Worten wird sie ernst. Sehr ernst. Denn ihr Land ist Venezuela und dieses Venezuela befindet sich in der Krise. Humanitär, wirtschaftlich, gesellschaftlich, politisch. «Es ist eine Diktatur, es herrschen Hunger und Gewalt. Das Regime ist korrupt und auch Drogen machen alles kaputt. ‘ExPatria’ soll das Publikum aufrütteln, die Leute sollen merken, was es bedeutet, wenn man sein Heimatland verliert. Es ist ein sehr persönliches Stück, man könnte sagen: ein Foto, das die Situation darstellt.»
Ein Jahr nach der Uraufführung des Stücks in Nürnberg spielte Gabriela Montero es auch in der Schweiz. Martha Argerich hatte Gabriela zu ihrem Festival nach Lugano eingeladen, um das Werk aufzuführen. Für die CD-Einspielung von «ExPatria» erhielt Gabriela Montero 2015 sogar einen Latin Grammy. Ihre zweite Komposition, das «Latin Concerto» hat sie vor einem Jahr im Leipziger Gewandhaus unter der Leitung von Kristjan Järvi, dem Bruder des künftigen Tonhalle-Chefs, aus der Taufe gehoben.
Gabriela Montero nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn sie die Zustände in Venezuela anprangert. Sie versucht, ihren Bekanntheitsgrad zu nutzen, um überall gehört zu werden. Nicht nur mit ihrer Musik, sondern ebenso mit ihrer Kritik an der Führung Venezuelas. «In erster Linie bin ich Mensch, und dann Künstlerin. Und als Mensch habe ich entschieden, mich für die Rechte der Menschen einzusetzen. Auch in Form des Stückes ‘ExPatria’. Meine Hoffnung ist allerdings, dass es eines Tages nicht mehr gespielt wird, weil die Situation in Venezuela anders geworden ist.» Gabriela Montero ist es sehr ernst mit ihren Worten und sie kritisiert auch ihren Landsmann Gustavo Dudamel, der sich viel zu lange habe instrumentalisieren lassen vom Regime und damit die Verhältnisse in Venezuela nach aussen hin verschleiert habe.
Ausgebildet bei «El Sistema»
Wie Dudamel kommt auch Gabriela Montero aus der Musikschule «El Sistema», die jahrelang Vorbildcharakter hatte, weit über Venezuela hinaus. Schon als Neunjährige sass sie am grossen Flügel auf der Bühne und spielte Haydn, als Elfjährige Edvard Grieg. Auf der Bühne ist sie zuhause. Bis heute. Und den Kontakt zum Publikum hat sie auch im Handumdrehen. Wenn es darum geht, Stücke zu improvisieren, lässt sie sich aus dem Publikum eine Melodie vorsingen, manchmal reichlich schief, aber die Töne fliessen sofort über ihre Finger in die Tasten, dann legt sie los. Mal wird’s jazzig, ein anderes Mal klingt es wie von Mozart, oder es erinnert an eine Fuge von Bach.
Der Flügel auf der Bühne scheint ihrer musikalischen Phantasie effektiv Flügel zu verleihen … und auch das Publikum zu beflügeln. Und Gabriela Montero lässt sich gerne zum Improvisieren animieren: «In einer Welt, in der alles kontrolliert wird, ist es wunderbar, aus dem Moment heraus etwas zu spielen.» Dass das Publikum im KKL diese Meinung teilte und Monteros Improvisationen mit grösster Begeisterung quittierte, ist klar.