Lange Zeit sah es so aus, als ob schlechtes Wetter das einzige Problem der Organisatoren der Olympischen Spiele in London wäre. 1948, als die „Olympics“ zum ersten Mal in der britischen Hauptstadt gastierten, hatten die Zuständigen noch andere Probleme gehabt. In der Nachkriegszeit waren in Grossbritannien zum Beispiel Lebensmittel so stark rationiert, dass selbst einige Athleten hungern mussten. Auch fehlte damals Geld zum Bau von Sportstätten.
Gute Laune - nicht durchwegs garantiert
Heute mangelt es in London an nichts, es sei denn an guter Laune, die etliche Einheimische angesichts des drohenden Verkehrskollapses und weiterer alltäglicher Unannehmlichkeiten noch vermissen lassen. Die Olympischen Spiele, hat ein Londoner per Tweet verbreitet, fühlten sich an, als ob jemand im eigenen Haus eine Party veranstalte und viel Eintritt verlange, während der Hausherr im Keller eingesperrt sei.
Nicht eben zur Steigerung der guten Laune haben unlängst Medienberichte beigetragen, wonach G4S, die mit dem Schutz der mehr als 100 Sportstätten beauftragt ist, es nicht geschafft hat, für den achtwöchigen Einsatz genügend Personal zu finden und zu instruieren. Statt der vereinbarten 13'700 Sicherheitskräfte hat das Unternehmen laut dem „Guardian“ bisher lediglich 4000 Mitarbeiter aufbieten können. Weitere 9000 Personen sind G4S zufolge „in der Pipeline“.
Nur an billigen Sicherheitsleuten interessiert?
Aber selbst jenes Sicherheitspersonal, das bereits im Einsatz ist, genügt den Medien nach in vielen Fällen den gestellten Anforderungen nicht. Der „Daily Mail“ etwa berichtete von rekrutierten Personen, denen es während der Ausbildung an Röntgenapparaten wiederholt nicht gelang, Bomben- oder Granatenattrappen zu entdecken. Andere Rekruten hätten Besucher mit versteckten Waffen passieren lassen.
Das Boulevardblatt zitierte einen Zeugen, der sagte, einige Mitarbeiter des Wachpersonals seien ungebildet und unvorbereitet: „Einige dieser Leute im Kurs würde ich nicht einmal anstellen, um einen Papierkorb zu leeren.“ Die „Sun“ meldete, ein früherer Polizist habe bemerkt, es gäbe Sicherheitsleute, die nicht einmal Englisch sprechen könnten. Und der „Guardian“ zitierte einen Ex-Polizisten, der seine Bewerbung bei G4S inzwischen zurückgezogen hat. Dem Sergeant zufolge ist die Rekrutierung des Sicherheitspersonals „total chaotisch“ verlaufen; das Unternehmen sei nur an billigen Arbeitskräften interessiert.
Sebastian Coe sieht's positiv
Zwar taten in der Folge Organisatoren und Politiker ihr Möglichstes, um den peinlichen Enthüllungen die Spitze zu brechen. „Ich glaube nicht, dass dies der Moment ist, um Tadel zu verteilen“, sagte Jeremy Hunt, der in der konservativen Regierung von David Cameron für die Londoner Spiele zuständig ist: „Jetzt müssen wir zusammenstehen.“ Auch OK-Chef Sebastian Coe, der frühere Olympiasieger über 1500 Meter, sah das Ganze positiv: „Es ist nicht so, dass wir zu wenig Leute hätten. Wir haben genügend Personal.“ All diese Probleme berühren Lord Coe zufolge die Sicherheit der Spiele nicht: „Diese hat natürlich erste Priorität.“
Genügend Sicherheitspersonal gibt es nun in London dank der britischen Armee und lokaler Polizeicorps im Lande draussen. Das britische Verteidigungsministerium hat aufgrund des Versagens von G4S zusätzlich 3500 Soldaten für die Olympischen Spiele abkommandiert. Etliche dieser Wehrmänner sind erst vor kurzem aus dem Krieg in Afghanistan zurückgekehrt und müssen den Umgang mit Zivilisten erst noch lernen. Mit dieser Verstärkung summiert die ohnehin schon beachtliche Truppenpräsenz in London auf insgesamt rund 17’000 Mann. Kein Wunder, klagen einzelne Londoner, ihre Stadt fühle sich wie besetzt an.
**"Schmähliches Debakel", muss der Firmenchef zugeben
Ganz ungeschoren kommt allen Beschwichtigungsversuchen zum Trotz aber auch G4S nicht davon. Abgesehen davon, dass der Aktienkurs des Unternehmens nach Publikation der Probleme um knapp 3 Prozent gesunken ist, musste Firmenchef Nick Buckles letzte Woche vor einem Ausschuss des Parlaments in Westminster antraben. Der 52-jährige Sohn eines Polizisten streute sich Asche aufs Haupt und stimmte reuig einem Labour-Abgeordneten zu, der die Leistung von G4S in London als „schmähliches Debakel“ einstufte. Er habe leider, erzählte Buckles, erst am 3. Juli während seiner Ferien in den USA von den Problemen seines Unternehmens erfahren – rund eine Woche, bevor die Firma das OK der Spiele über ihre Probleme informierte.
Dem Firmenchef zufolge wird G4S natürlich für die Kosten aufkommen, die nun wegen des Einsatzes zusätzlicher Soldaten und Polizisten entstehen. Der prestigeträchtige Auftrag, die Olympischen Spiele in London zu sichern, beläuft sich auf umgerechnet 426 Millionen Franken, wobei Schätzungen zufolge der Verlust wegen nicht erbrachter Leistungen inklusive Bussen gegen 70 Millionen Franken betragen dürfte. Es ist eine Einbusse, die ein Unternehmen wie G4S leicht verkraftet, das im Schnitt über 700 Millionen Gewinn pro Jahr macht.
Die Experten streiten sich
In aller Fairness sei festgehalten, dass G4S aufgrund eines früheren Vertrages mit den Organisatoren der Olympischen Spiele noch bis zum vergangenen Dezember davon ausgegangen war, in London lediglich 2000 Sicherheitsleute stellen zu müssen. Noch drei Monate früher hatte die Firma ausdrücklich festgehalten, sie werde ohne rechtzeitige Warnung nicht in der Lage sein, mehr Personal zu rekrutieren. Doch die Sicherheitsanforderungen wurden in der Folge plötzlich markant emporgeschraubt, nicht zuletzt auf starken Druck der USA hin, die ihre Athleten und Besucher von Terroristen bedroht sehen. Gleichzeitig wuchs das Auftragsvolumen von umgerechnet 129 auf 426 Millionen Franken.
Währenddessen streiten sich Experten, wie gross der Reputationsverlust für G4s ausfallen wird. Ironischerweise sagte Nick Buckles vor dem Parlamentsausschuss, es sei ihm bei der Übernahme des Auftrags vor allem darum gegangen, die Reputation und den Brand des Unternehmens zu stärken. Mit einem grossen Gewinn habe er nie gerechnet; der Auftrag sei eh nur knapp profitabel.
Sozialisierte Verluste
Der G4S-Chef wird jedoch kaum verhindern können, dass in Grossbritannien die Diskussion erneut ausbricht, ob und falls ja, in welchem Umfang der Staat seine Aufgaben an Private delegieren darf oder soll. Dies umso eher, als die Privatisierung öffentlicher Aufgaben, etwa im Bereich der IT, zu den erklärten Zielen der gegenwärtigen Tory-Regierung gehört. G4S, meinen Kritiker dieser Politik, sei erneut ein Beispiel dafür, wie Gewinne privatisiert, Verluste aber sozialisiert würden.
Dagegen meint der „Observer“, das Londoner Olympia-Debakel werde G4S kaum nachhaltig schaden. Die Strategie der Firma sehe sowieso vor, sich in Zukunft von Grossbritannien weg und stärker auf Afrika und Asien hin zu orientieren, wo G4S bereits mehr verdient als im Heimatmarkt. Auch hat das Unternehmen in den USA mehr Regierungsaufträge als in Grossbritannien. Auf jeden Fall ist der frühere Briefkopf der Firma eingestampft worden. Er lautet: „Stolz darauf, die Olympischen Spiele in London zu beschützen“.
Quellen: „The Guardian“, The Observer“, „The Independent“, „The New York Times“