Die Engländer machen tatsächlich Ernst. Vier Tage nach ihrem Austritt aus der Europäischen Union und fünfzig Jahre nach dem denkwürdigen englischen Finalsieg gegen Deutschland im alten Londoner Wembley-Stadion mit jenem legendären dritten englischen Tor, das als das „Tor von Wembley“ in die Fussballgeschichte einging, haben sie sich auch aus der Fussball-Europameisterschaft verabschiedet. Einfach so, sang- und klanglos sind sie untergegangen gegen eine Bande von Halbprofis, die aussehen, als kreuzten sie wie ihre Vorfahren immer noch in Langbooten auf dem Atlantik. 1:2 unterlag das englische Nationalteam den Isländern.
Der Fussballwinzling Island war zu einem „Giganten“ (so die Zeitung Pressan in Reikjavik) herangewachsen und spottete über das zum Däumling degradierte Mutterland des Fussballs: „Am Freitag hat sich England einen Spass mit Europa gemacht, heute lacht die Fussballwelt über England."
Hohn und Spott schüttete die englische wie die internationale Presse über den „Three Lions“ aus. „Island macht England lächerlich. Der Termin des Brexit wird durch die Nordeuropäer vorverlegt“, beobachtete die spanische Zeitung Marca.
Als „Witzfiguren“ bezeichnete der Daily Mirror die Spieler: „Brrrexit. England fliegt zum zweiten Mal innerhalb einer Woche aus Europa. England war chaotisch, eine Horror-Show... Es gibt drei Dinge, deren man sich im Leben sicher sein kann: Tod, Steuern – und mittelmässige Auftritte Englands bei grossen Turnieren.“
Bitterböse rechnete The Times mit den Verlierern ab: „Nach 959 Spielen war dies die demütigendste Niederlage in Englands Geschichte – gegen ein Land mit 330’000 Einwohnern, trainiert von einem Zahnarzt. Nichts in der 144-jährigen Geschichte ist vergleichbar mit dieser Schmach. England hat letzte Nacht aufgehört ein Fussball-Team zu sein und ist nur noch eine Lachnummer. Das war hirntoter Fussball, voll von Individuen in Panik. Europa wird dieses England nicht vermissen.“
Das „Tor von Wembley“
Welch ein deprimierendes Jubiläum! Fünfzig Jahre liegt der grösste Triumph des englischen Fussballs zurück. Es war der 30. Juli 1966, als Königin Elizabeth II. Englands Mannschaftskapitän Bobby Moore den Coupe Jules Rimet überreichte. England war Weltmeister geworden und hatte den Deutschen, die mit dem Schiedsrichter, dem Schicksal und dem Ergebnis haderten, auf Jahre hinaus Stoff für Diskussionen gegeben.
In der allerletzten, der 90. Minute hatte Wolfgang Weber zum 2:2 ausgeglichen. Die Partie ging in die Verlängerung. „Es war die 101. Minute des Spiels. Ein Schuss von Englands Stürmer Geoff Hurst, vom deutschen Torwart Hans Tilkowski mit den Fingerspitzen noch berührt, war von der Latte nach unten auf die Torlinie geprallt und von Wolfgang Weber dann über den Querbalken ins Aus geköpft worden“, erinnerte sich die Frankfurter Allgemeine Zeitung vierzig Jahre später, als die Deutschen ihr Sommermärchen feierten.
„Vor, auf oder hinter der Linie? Drin oder nicht, das ist bis heute die Frage“, sinnierte die Sportschau in shakespearscher Tiefe. „Die Engländer reissen die Arme hoch, die Deutschen winken ab.“ Der Schweizer Schiedsrichter Dienst zögerte und erkundigte sich bei seinem Linienrichter Tofik Bachramow aus der UdSSR, um ihn zu fragen: „Was the ball behind the line?“ Bachramow: „Yes, behind the line.“ Dienst deutete zur Mitte und gab das Tor. „19 Minuten später sind die Briten Weltmeister, siegen 4:2, weil Hurst noch seinen dritten Finaltreffer erzielt, als schon Zuschauer auf den Platz stürmen.“
„Wir haben 2:2 verloren" resümierte Bild. „35 Jahre danach“, so wusste die Sportschau, „überkommen Hurst doch noch Zweifel an der Regelgültigkeit seines Treffers. In seinem Buch 1966 and All That gibt er immerhin zu, dass es aussieht, als ob der Ball die Linie nicht überschritten hat.“ Auch den längst verstorbenen Gottfried Dienst hatten später Zweifel geplagt. „Ich weiss auch heute noch nicht, ob der Ball drin war. Und wenn sie mich nach 100 Jahren wieder ausgraben und ich komme neu auf die Welt, weiss ich es immer noch nicht“, sagte er fast dreissig Jahre danach. Nur ein Deutscher wusste es genau. „Der Ball war drin“, war sich Bundespräsident Heinrich Lübke absolut sicher, so wie der youtube-Kommentator.
Bei jener Fussball-WM waren die Italiener die „Trottel“, die sich von einem anderen Fussballzwerg aus dem Turnier werfen liessen. Nordkoreas „Fussballsoldaten“, wie sie abfällig genannt wurden und heute noch werden, sorgten mit ihrem 1:0-Sieg über die „Squadra Azzura“ für die Sensation. Im Viertelfinale unterlagen sie Portugal dann trotz einer 3:0-Führung doch noch 5:3. Eusebio erschoss sie mit seinen vier Toren beinahe allein.
Die „Rache für Wembley“
Unter Deutschlands Fussballfans hingegen blieb das „Tor von Wembley“ für Jahrzehnte Diskussionsthema Nr. 1 – bis zur Weltmeisterschaft 2010. „4:1-Sieg: Deutschland müllert England weg“, titelte Spiegel online nach dem Achtelfinalsieg im südafrikanischen Bloemfontein und jubelte: „So hoch hat Deutschland gegen England noch nie gewonnen. . . Thomas Müller als Star des Spiels traf gleich zweimal – doch ein nicht gegebenes Tor für die Gegner wird noch Diskussionen nach sich ziehen.“
Die Situation, die zu Diskussionen und zu Verärgerung auf der Insel führte, trug sich beim Spielstand von 2:1 für Deutschland zu. „In der 40. Minute hielt der Geist von Wembley Einzug, mit neu verteilten Rollen. Als Frank Lampard aufs Tor von Manuel Neuer schoss, prallte der Ball – wie 1966 beim Schuss von Geoff Hurst auf das Tor von Hans Tilkowski – hinter Keeper Neuer von der Unterlatte auf den Boden“, berichtete Spiegel online. „1966 gab Schiedsrichter Gottfried Dienst den Treffer nach langen Diskussionen. 2010 war die Situation ungleich eindeutiger, Schiedsrichter Jorge Larrionda aus Uruguay entschied dennoch, dass der Ball nicht im Tor war – ein klarer Fehler wie die Fernsehbilder im Anschluss zeigten“, die heute noch bei youtube gesehen werden können. https://www.youtube.com/watch?v=XxQqoYrShgE
DFB-Präsident Theo Zwanziger gab schon in der Halbzeitpause in der ARD zu: „Selbst ich habe von der Tribüne aus geglaubt, dass der Ball drin war.“ Jeder im Stadion und Millionen vor den Fernsehschirmen in aller Welt hatten es gesehen. Es war kein Zweifel möglich. Es war ein reguläres Tor. Nur Schiedsrichter Jorge Larrionda aus Uruguay hatte es anders gesehen und entschied, dass der Ball nicht im Tor war. Der deutsche Torwart Manuel Neuer mogelte den Ball aus dem Tor: „Ich habe nicht gesehen, ob der Ball drin war. Nachdem ich mich umgedreht habe, habe ich mich nur auf den Ball konzentriert.“ Neuer hatte es nicht gesehen, aber es war ihm klar, dass der Ball im Tor war: „Ich habe mich natürlich beeilt, nach vorne zu kommen, damit der Schiedsrichter nicht auf die Idee kommt, dass der drin war.“
Alle sahen die Parallelen zu 1966. „Wembley-Tor andersrum: Deutschland wirft England raus“, titelte der Wiener Standard.
„Löws Mannschaft hat England überrollt. Der Fussball ist eine Metapher des Lebens. Als Beispiel diente Deutschland, das 44 Jahre danach Revanche genommen hat. Ausdauer hat den Deutschen noch nie gefehlt. Und nun hat der Fussball ihnen zurückgegeben, was er ihnen an jenem 30. Juli 1966 genommen hatte. Es war ein Wink des Schicksals, eine filmreife Revanche. Die Inkompetenz der Schiedsrichter hat sich indes verewigt“, philosophierte Spaniens El País.
Und der Schweizer Blick jubelte: „England-Drama – Erst Tor geklaut und dann von den Deutschen gedemütigt. Es ist die späte Rache für 1966. Ein ‚Wembley-Tor‘ bricht den Engländern das Genick. Danach zerlegen die deutschen Bubis die ‚Three Lions‘.“
Das neuerdings „Die Mannschaft“ getaufte Team Deutschlands unterlag damals im Halbfinale in Durban dem späteren Weltmeister Spanien mit 0:1 und errang durch einen 3:2-Sieg gegen Uruguay in Port Elizabeth den dritten Platz.