Der Stadtplan sieht so geometrisch aus wie ein Strickmuster: lauter identische Rechtecke, von Strassen eingefasst und durchzogen. Wir stehen mittendrin, sind von der achtspurigen Querachse über das linear und symmetrisch angelegte Verbindungsnetz in dieses Quartier gelangt, in die Superquadra SUL 304. Da finden wir uns zwischen mächtigen Wohnblocks wieder, jeder maximal sechs Stockwerke hoch, damit er nicht zu viel Schatten wirft auf die weiten, baumbestandenen Grünflächen dazwischen. Jeder Block steht auf Pfeilern, wodurch noch mehr öffentlich zugänglicher Raum entsteht – diesmal im Schatten.
Bis zu 5000 Menschen leben in einer solchen Superquadra, deren jede über ihre eigene Infrastruktur verfügt, über Kindergarten und Schule, Kirche und Kiosk, Kleinläden, Bars und Restaurants. Jede Superquadra ein Dorf, insgesamt gibt es mehr als hundert. Die Gewerbe-, Verwaltungs-, Hotel- und Freizeitzonen sind davon fein säuberlich getrennt.
Der Traum von der menschenwürdigen Stadt
Der Traum von der menschenwürdigen Stadt, die ihren Bewohnern eine möglichst hohe Lebensqualität bietet – hier in Brasília ist er 1960 in Betrieb gegangen. Heute hat die Hauptstadt aus der Retorte, 1957 bis 1960 in nur drei Jahren buchstäblich aus dem Boden gestampft, 2,5 Millionen Einwohner. Wir müssen unwillkürlich an ähnlich monströse Überbauungen denken, wie wir sie einst im damals kommunistischen Osteuropa gesehen haben, in Novi Beograd zum Beispiel oder im Berliner Stadtteil Marzahn.
Auf diese Parallele angesprochen, reagiert unser Begleiter ungehalten. „Nein, mit Kommunismus hat Brasília nichts zu tun“, sagt er sehr bestimmt. „Oscar Niemeyer war zwar erklärter Kommunist, aber ihn lockte die soziale, planerische und architektonische Herausforderung, die unermessliche Freiheit, etwas ganz Neues, etwas Perfektes in die unbesiedelte Hochebene des Planalto Central zu stellen, wo bisher nichts war als Wildnis.“
Die Heftigkeit, mit der Lúcio Montiel, unser Brasília-Stadtführer für zwei Tage, seinen Einwand vorbringt, macht uns hellhörig. Er selber ist 1960, im Jahre ihrer offiziellen Einweihung, in der Hauptstadt zur Welt gekommen. Sein Vater, ein Architekt, gab ihm den Namen Lúcio – zu Ehren von Lúcio Costa, dem Stadtplaner von Brasília. Kommunismus hin oder her: Die neue, menschengerechte Stadt, die Utopie vom besseren Leben für alle – war das nicht seit eh und je ein linkes Postulat?
Das Thema ist gesetzt und hält uns zwei Tage auf Trab. Vor dem Memorial JK, dem Denkmal für Juscelino Kubitschek, den Staatspräsidenten, der Brasília bauen liess, kommen wir unvermeidlich darauf zurück: Einerseits erinnert uns die gewichtige Skulptur auf dem Dach mit der optimistisch winkenden Figur im geschwungenen Eisenbogen doch sehr an das idealisierte Menschenbild im sozialistischen Realismus, ihre Silhouette zudem an eine Abwandlung des Motivs von Hammer und Sichel. Und andererseits: Gleicht das Mausoleum mit den sterblichen Überresten von JK nicht geradezu verblüffend dem Lenin-Mausoleum in Moskau? Und hatte Niemeyer für seine Architektur nicht 1963 den Lenin-Preis erhalten?
Architekturikonen, aufgereiht an einer monumentalen Achse
Jetzt verwirft Lúcio Montiel die Hände. „Brasília war der Aufbruch Kubitscheks in eine neue Zeit“, sagt er, „ins Wirtschaftswunder der 1960er Jahre und damit in den Kapitalismus.“ Wir stehen vor der Monumentalachse, an der Nationalkongress, Justizpalast, Kathedrale und 16 Ministerien wie zur Parade angetreten sind – ein starker Auftritt, der Brasília zu einer Ikone der modernen Architektur werden liess. Wieder singt Lúcio sein Loblied auf Kubitschek, der Niemeyers Vision realisiert hat. „Wer hat Brasília gebaut?“, flachsen wir derweil. „Der grosse Kubitschek? Er allein? Hatte er nicht wenigstens ein paar Maurer bei sich?“
Und von Bert Brecht ist es kein grosser Schritt zu Max Frisch, Architekt und Schriftsteller. Unweigerlich fällt uns das berühmte Foto aus dem Jahre 1948 ein, auf dem Frisch Freund Brecht über die Baustelle des Schwimmbads Letzigraben in Zürich führt. Frisch hätte der radikale Aufbruch in Brasilien interessieren müssen, dieses futuristische Jahrhundertwerk, hatte er doch schon als Architekturstudent von den Möglichkeiten des Neubeginns geschwärmt. Ebenfalls 1948, zu Besuch in Warschau, schaute er sich mit unverhohlener Begeisterung die Modelle an, nach denen die kriegszerstörte polnische Hauptstadt neu aufgebaut werden sollte: „Zum erstenmal hat der moderne Städtebau eine wirkliche Chance“, notierte er, „nachdem er seit Jahrzehnten überall gelehrt wird.“
Eine Schweizer Städtebau-Phantasie
Frisch empfand die Schweizer Architektur seiner Zeit als phantasielos und kleinmütig – und überhaupt als Ausdruck einer verknöcherten Haltung dem Leben gegenüber. In der Broschüre „achtung: die Schweiz“ rechnete er 1955 – zusammen mit Lucius Burckhardt und Markus Kutter – mit der musealen Schweizer Bauerei ab und schlug vor, anstelle einer traditionellen Landesausstellung 1964 eine neue Stadt zu errichten – „zum Beispiel: Irgendwo im Seeland, im Dreieck zwischen Bieler-, Murten- und Neuenburgersee“, ironischerweise genau dort, wo Jahrzehnte später die Expo.02 stattfand. „Im Ernst: gründen wir eine Stadt“, hiess es in dem Pamphlet, das landesweit heftig diskutiert wurde. „Wir wollen die Schweiz als eine Aufgabe.“ Das kühne Projekt blieb indes Gedankenspielerei.
Doch seltsam: Nicht nur weilte Frisch, der Weltreisende, nie in Brasília – im Max-Frisch-Archiv an der ETH Zürich lässt sich nicht ein einziger Hinweis darauf finden, dass er das Experiment auch nur mit Interesse verfolgte. Immerhin hatte er noch 1956 an der 6th International Design Conference in Aspen, Colorado, einen Vortrag mit dem Titel „Why Don’t We Have the Cities We Need?“ gehalten, dessen Text im Max-Frisch-Archiv einzusehen ist. Darin entwarf er, im lockeren Ton eines charmanten, witzigen Causeurs, die Vision von der neuen Stadt, der Stadt als Treffpunkt unterschiedlicher sozialer Schichten, der Stadt als begehbarem Raum mit entsprechend kurzen Verbindungswegen. „Der Grundsatz heisst Gehdistanz“, forderte er in seinem Aspen-Vortrag, denn „Bummeln heisst unter Leuten sein, ein Fussgänger unter Fussgängern. So bin ich Teil der Gesellschaft.“
Doch exakt dieser Vorstellung haben Costa, Niemeyer und Kubitschek in Brasília schon fast planmässig zuwidergehandelt: Hier bleibt die Kaste der Beamten, die die teuren Wohnungen bezahlen kann, schön unter sich, derweil die kleinen Leute in die Satellitenstädte und Favelas verbannt sind, von denen sich mittlerweile über zwei Dutzend rund um die Hauptstadt gruppieren. In Brasília sind Fussgänger schlicht nicht vorgesehen; wie Fremdkörper bewegen sie sich auf den Trampelpfaden zwischen den breiten Avenidas mit ihren pausenlos rollenden Verkehrsströmen.
Entscheid für eine Lebensform
Eine krasse Fehlplanung, denkt man an die Forderungen von Max Frisch. „Stadtplanung ist weit mehr eine politische denn eine technische Angelegenheit“, postulierte er 1956 in seinem Vortrag in Aspen. „Eine Stadt gründen heisst sich für eine Lebensform entscheiden.“ Und: „Man kann nicht eine Stadt planen ohne zu wissen, wer darin leben soll.“
Natürlich war den Pionieren von Brasília völlig klar, wer dereinst in ihrer schönen neuen Stadt leben sollte: vorwiegend Staatsbeamte der Mittel- und Oberschicht, die zwischen der Tiefgarage in ihrer Wohnsiedlung und der Tiefgarage des Ministeriums im Zentrum pendeln würden, derweil sich die unteren Chargen um einen der raren Sitzplätze im nur dürftig ausgebauten öffentlichen Verkehr balgten.
Brasília, erkennen wir nach zwei Tagen in der Hauptstadt vom Reissbrett, ist mehr Architekturausstellung als pulsierender Lebensraum, ohne Taxi schon rein physisch gar nicht zu bewältigen. Nein, so hat sich Max Frisch die neue Stadt garantiert nicht vorgestellt.
Immerhin: Brasília steht und funktioniert schlecht und recht, und das seit nunmehr 50 Jahren. Max Frisch würde dieses Jahr hundert. Seine Vision von der neuen Stadt ist Utopie geblieben. In Brasilien. Von der Schweiz gar nicht zu reden.