Die eine Probe hat Stephan Müller gerade beendet, die nächste folgt gegen Abend. Dazwischen liegt eine Stunde Zeit, um sich über das zu unterhalten, was Müller jetzt am Zürcher Schauspielhaus vorbereitet: einen Abend über Max Frisch. Oder eine Collage. Oder eine Annäherung an seine Texte. Oder eine Sightseeing-Tour: mit Reiseleiter Stephan Müller durch Frischs Welt, Frischs Orte, Frischs Gedanken …
Mögen Sie Max Frisch? Das frage ich Stephan Müller bei einem Pfefferminztee an diesem eiskalten Märztag. «Ich habe Frisch dreimal getroffen», erzählt er. «Einmal, als Student in New York, einmal in Berlin, wo ich mit ihm Tischtennis gespielt habe, und einmal an einem Geburtstagsfest seiner damaligen Frau Marianne.»
Und? Welchen Eindruck hatte er von Max Frisch? «Ich mochte ihn sehr, weil er im Dialog sehr passiv war. Man konnte mit ihm schweigen. Eine grossartige Tugend, die nur wenige beherrschen!» So sei er mit Frisch die Sixth Avenue in New York hochgelaufen, zweimal mit ihm ins Theater gegangen, alles mehr oder weniger schweigend. «Ich kannte ihn nur als Promi, als ‘Star’, hatte aber nichts von ihm gelesen, er war damals gar nicht mein Autor. Zum Glück haben wir kaum geredet, insbesondere nicht über seine Werke …», sagt Müller heute. Immerhin gab es doch noch ein Gesprächsthema zwischen den beiden. «Wir haben über unsere Lieblingsautoren diskutiert, über Becket und Kafka. Da haben wir uns beide gut ausgekannt.»
Theaterstücke veraltet
Eine interessante Ausgangslage, um sich Jahre später intensiv mit Frisch zu befassen und ein ungewöhnliches Projekt zu starten. «Seine Theaterstücke habe ich schon in den Siebzigerjahren veraltet gefunden und heute sowieso, es sei denn, man findet eine ganz spezielle Perspektive.» So wie z. B. Volker Lösch, der in Dresden aus Frischs «Graf Öderland» ein Pegida-Lehrstück gemacht hat. Oder wie Bastian Kraft, der in Zürich Frischs «homo faber» von einem Roman in ein packendes Bühnenstück verwandelt hat. «Was mich jetzt an Frisch fasziniert, sind seine grossartigen Reden. Sei es damals am SPD-Parteikongress in Bremen, sei es die Rede über das Goldene Kalb, seine letzte Rede in der Schweiz, sei es die Rede bei der Entgegennahme des Schillerpreises im Zürcher Schauspielhaus. Oder die Rede zur ‘Demokratie im Verfall’, in der er beschreibt, dass der Lobbyismus das Zentrum der Demokratie ist und dass es nicht um die Mehrheit geht, weil die Mehrheit ja gar nicht abstimmt … also zumindest während der Zeit, als Frisch das schrieb.
Dann der ganze Populismus … das hat Frisch alles schon benannt». Zu den Texten, die Müller in den Frisch-Trip hat einfliessen lassen, gehören auch zahlreiche Interviews mit Frisch und die vier Tagebücher. «Ich bin ganz begeistert über die Vielfalt in seinen Texten. Das können ganz kleine Literaturstücke sein, über Paranoia, einen Traum oder über Montauk, wo er die ganze Epoche seiner Zweisamkeit noch einmal reflektiert. Was er da schreibt über Liebe, Verfehlungen, Verpasstes, über sich selbst als Macho und den Versuch, sich zu ändern und auch einen emanzipatorischen Prozess in sich anzuwerfen, das finde ich schon sehr spannend und ich habe mich noch nie gelangweilt, obwohl ich nun schon über ein Jahr an diesem Material arbeite.»
Und in was wird denn nun dieser Arbeit münden? Wie hat man sich die Annäherung an Frisch vorzustellen? «Es ist eine thematische und örtliche Fahrt.» Und dies im buchstäblichen Sinne. Die Erkundungstour in Sachen Frisch beginnt nicht im Schauspielhaus, sondern in der ETH, führt aufs Kasernenareal, dann in den alten botanischen Garten, ins Dachgeschoss des Hochhauses nebenan, zum Olga-Stollen beim Stadelhofen und erst am Schluss ins Schauspielhaus. Gutes Schuhwerk braucht man nicht für die Tour, man reist komfortabel im Bus. Und im Bus werden auch gleich noch Filme zum Thema gezeigt. Über vier Stunden dauert die Reise, die einem ganz neue Einsichten zu Max Frisch vermitteln kann.
Reiseroute zu Frisch
Und so soll es an den verschiedenen Orten vor sich gehen: «Die ETH ist der Ort der Zukunft», so Müller. «Dort sind Forscher, die mit dem Wissen aus der Vergangenheit in die Zukunft denken. Die Utopie. Ein grosses Thema bei Frisch. Die Utopie als Paar, als Mensch, als Staat, als kapitales System», erläutert Müller. In der Kaserne geht es um Demokratie. Unterwegs sehen die «Reiseteilnehmer» Ausschnitte aus einer Fernsehsendung mit dem ehemaligen Bundesrat Furgler und Max Frisch, moderiert von Heiner Gautschy. Einmontiert wird aber Mike Müller, der moderiert und auch kommentiert. Auf der sogenannten ‘Liebesinsel’ im alten botanischen Garten dreht es sich anschliessend um das Thema Liebe und Eifersucht. Weiter geht’s in den Olgastollen mit Überlegungen zum herannahenden Alter und schliesslich zu Fuss ins Schauspielhaus. Hier geht es zum Abschluss um die Summe des Lebens und den Tod.
«Es ist ein bisschen wie eine ‘Jedermann‘-Strecke», sagt Müller. «Jeder von uns hat Hoffnungen, jeder hat eine Utopie, jeder ist Teil eines Staatswesens, jeder ist mit dem sogenannt ‘Anderen’ konfrontiert, als Paar, Nicht-Paar oder gescheitertes Paar. Jeder hat mit dem Altern zu tun und jeder von uns ist konfrontiert mit der grössten Kränkung des Menschen, dem Tod.» Ein Bogen, den schon Goethe gespannt hat. «Goethe sagte, jeder grosse Roman müsse folgende Fragen bewegen: ich und die Welt, ich und die Arbeit, ich und das andere Geschlecht, ich und ich, ich und Gott, ich und der Tod. Daran haben wir uns auch orientiert.»
Auskundschaften der Welt
Ähnliche Projekte hat Müller bereits in Berlin, Wuppertal, und Venedig realisiert und das nächste steht in Chengdu an. «Aber Zürich ist nicht Chengdu …. Wenn in Chengdu der Oberste ‘ja’ sagt, dann rennen alle ... in Zürich ist es schwieriger mit den Bewilligungen.»
Stephan Müller hat zu Beginn der Siebzigerjahre als Regieassistent von Werner Düggelin in Basel angefangen. Eine spannende Zeit, alles schien möglich im Theater, Basel wurde zu einem internationalen Anziehungspunkt. Von Basel ging Müller zum Studium nach New York und arbeitete dort unter anderem auch mit Robert Wilson zusammen. In den Neunzigerjahren leitete Müller zusammen mit Volker Hesse höchst erfolgreich das Neumarkt-Theater, ging dann als Regisseur und Dramaturg ans Wiener Burgtheater und ist seit 2005 wieder als freier Regisseur an verschiedenen Theatern tätig.
Stephan Müller ist Max Frisch inzwischen viel näher gekommen als während der drei Begegnungen zu dessen Lebzeiten. Insbesondere durch die eher unbekannten Texte Frischs. Frisch bezeichnete sein Schreiben zum grossen Teil als ein «Auskundschaften der Welt». «Dies tat er mit grosser Präzision und entdeckte Profundes, und dass er das auch in einer sehr verständlichen Sprache darstellen konnte, finde ich wunderbar.» Stephan Müller kommt richtig ins Schwärmen. «Ich finde ihn auch sehr witzig. Nicht in dieser Art Witz, die bei Dürrenmatt ganz vordergründig ist. Frisch ist viel hinterhältiger und hat einen grossen Geheimnisraum in seinen Texten.»
Dann kommt Müller noch einmal auf eines dieser drei Treffen mit Frisch zu sprechen. «Ich hatte mit ihm Tischtennis gespielt und war besser als er … es war unfassbar, wie er sich angestrengt hat, total entfesselt, wie er zornig wurde … Er hat Tischtennis enorm geliebt, hatte einen Tischtennis-Tisch in Berzona, Berlin und in Zürich … ja, er war ein lustiger Herr!»
Also anders, als man ihn bis jetzt erlebt hat. Dank Müllers frischem Blick auf Frisch.
«Ärger im Paradies»
Ein Max-Frisch-Trip durch Zürich
Schauspielhaus Zürich
ab 6. April 2018