Ob der erneut versprochene Waffenstillstand in Syrien zustande kommt, wann er beginnt und wie lange er andauert, dürfte in erster Linie von den Russen abhängen. Sie haben die Macht, Asad zu veranlassen, sich ihren Plänen für Syrien zu fügen. Deshalb ist es nützlich, sich zu fragen, welche die Pläne der Russen für Syrien wohl haben könnten.
Putins Pläne
Das gilt mit Sicherheit: Es geht Putin darum, zu vermeiden, dass Asad zu Fall kommt - jedenfalls nicht unter dem Druck der Amerikaner und anderen westlichen Mächten und deren syrischen Verbündeten. Ob das bedeutet, dass Russland, das heisst Putin, wünscht, dass Asad wieder ganz Syrien beherrscht, und wie rasch dies in russischen Augen bewerkstelligt werden müsste, ist eine andere Frage.
Möglicherweise könnte sich Russland (Putin) zunächst damit zufrieden geben, dass Asad das "nützliche Syrien" wieder voll unter seine Herrschaft bringt. Das wäre West-Syrien auf der Achse: Deraa, Damaskus, Homs, Hama, Aleppo und westlich davon die Mittelmeerprovinz Lattakiya. Ostsyrien mit der Hauptstadt des IS, Rakka am Euphrat, und die östlich davon liegende "Insel", al-Dschasira, zwischen Euphrat und Tigris mit dem Khaburtal, könnte für einen zweiten Waffengang aufgespart werden.
Der zweite Schachzug
Dieser zweite Waffengang würde ein Kampf gegen den IS, auch vom Irak aus geführt, um den IS aus Mosul zu entfernen. Wenn die Amerikaner und andere westliche Staaten sich an diesem zweiten Waffengang zusammen mit Asad und den Russen selbst, beteiligen sollten, hätten die Russen schwerlich etwas dagegen. Schon heute sind ja die westlichen Natomächte mit Bombenangriffen gegen den IS engagiert, so wie die Russen auch - obgleich sie zur Zeit die grosse Mehrzahl ihrer Luftschläge in West-Syrien gegen die dortigen Feinde Asads richten, weil diese (solange die Kämpfe in West-Syrien andauern) für das Asad Regime am gefährlichsten sind.
Doch wann ist es für die Russen und ihren Klienten, Asad, am besten, dass der Waffenstillstand beginnt? - Einen Hinweis bot der anfängliche russische Plan, der in der ersten Februarwoche vorlag. Nach ihm schlugen die Russen eine Waffenruhe ab dem 1. März vor. Der Grund für diese Verschiebung war ohne Zweifel, dass die Russen und die syrische Regierungsarmee mit ihren Hilfskräften im Begriff waren, die Offensive zu ergreifen und in kleinen Schritten Gelände zu gewinnen: in Nordsyrien und an der Südfront. Ein paar Wochen Zeit würde ihnen die Gelegenheit geben, auf den west-syrischen Kampfplätzen weitere Fortschritte zu machen und möglicherweise sogar vollendete Tatsachen in Bezug auf Aleppo oder vielleicht auch die Idlib Probinz zu schaffen. Vielleicht nicht volle Siege, aber doch mindestens weitere Fortschritte, bevor die Waffenruhe beginnt. So dürften die Russen kalkuliert haben.
Waffenstillstand auf dem Papier
Aus dem gleichen Grund drängten die Amerikaner auf sofortige oder möglichst baldige Waffenruhe. Die Russen gaben "auf dem Papier" nach und stimmten einem Anfangsdatum vom 12. Februar zu. Wobei klar war, dass dieses Datum in der Praxis leicht hinausgeschoben werden konnte - einfach, indem man über die genaueren Schritte der angekündigten Waffenruhe und ihre Einzelheiten weiter verhandelte. Wie es denn auch geschah. - Es könnte auch weiterhin zu Aufschüben kommen mit dem Zweck, die zur Zeit erfolgreichen Kämpfe nicht allzu schnell zu beenden. Ein Spiel mit geteilten Rollen ist möglich: Russland sagt: "Ja, Waffenstillstand!", doch Asad sagt (mit heimlicher Zustimmung aus Moskau): „Noch nicht sofort, die Gegenseite ist ja auch noch nicht bereit."
Ob und wie lange der angekündigte Waffenstillstandsbeginn hinausgezogen wird, hängt für die Russen und Asad wohl in erster Linie davon ab, wie sie ihre militärischen Chancen in den kommenden Tagen und vielleicht Wochen beurteilen. Wenn sie glauben, rasch bedeutende Fortschritte erkämpfen zu können, werden sie dazu neigen, das Datum des Waffenstillstands weiter hinauszuschieben. Vorwände, um dies zu tun, werden sie leicht finden. Wenn sie jedoch die Aussichten für die syrische Regimearmee, rasch wichtige der verbleibenden Teile West-Syriens in ihren Besitz zu bringen, für gering halten, werden sie eher bereit sein, ein baldiges Waffenstillstandsdatum nicht nur auf dem Papier zu billigen, sondern auch in der Praxis zu verwirklichen.
Der liebe Obama
Weil die Regierungstruppen zur Zeit in der Offensive stehen und vorankommen, ist es im Interesse der Amerikaner und der nicht zum IS und zur Nusra-Front gehörenden Kampfgruppen, einen Waffenstillstand rasch herbeizuführen. Er würde den gegenwärtig langsam zurückweichenden Kämpfern erlauben, sich besser zu organisieren und vielleicht auch mit saudischer Hilfe neue Waffen zu erhalten. Wenn der Waffenstillstand in Verhandlungen einmünden sollte, wäre ihre Ausgangsposition besser, solange sie über Positionen und Territorien verfügen, die sie bei weiter andauernden Kämpfen möglicherweise verlieren könnten.
Weitere Fragen der Zeitabläufe könnten auch in Rechnung gestellt werden, zum Beispiel: Berücksichtigung der amerikanischen Wahltermine. In der zweiten Hälfte dieses Jahres und gegen sein Ende hin dürfte Barak Obama als „lame duck“ noch weniger in der Lage sein, entscheidende und bedeutungsvolle Schritte anzuordnen als gegenwärtig. Was für die Russen mögliche Kraftproben in Syrien oder in der Ukraine zunehmend attraktiver machen könnte.
Frieden und Nicht-Frieden
Der IS ist nicht daran interessiert, dass ein Waffenstillstand zustande kommt. Wenn dieser einträte, würden die IS und die Gegner der Nusra, nämlich Asads Armee und die Rebellengruppen, nicht mehr gegeneinander kämpfen, wie das gegenwärtig der Fall ist. Sie könnten sich dann vollständig auf den IS und auf Nusra konzentrieren.
Die besonders schweren Selbstmordanschläge der vergangenen Woche, in Homs mit über 60 Toten im alawitischen Viertel der Stadt und in dem schiitischen Heiligtum von Sayyida Zeinab bei Damaskus mit über 120 (der verlustreichste aller Anschläge des gesamten Bürgerkrieges in Syrien), wofür der IS die Verantwortung übernimmt, sollten ohne Zweifel dazu dienen, den Waffenstillstand zu verhindern. Umgekehrt ist die Notwendigkeit, gegen den IS vorzugehen, die auch für die Russen besteht, ein Grund, der für das Zustandekommen des Waffenstillstandes spricht.
Saudi-Arabien primär gegen Asad
Für Saudi Arabien hat der Waffenstillstand Vorteile, weil er den syrischen Partnern des Königreiches, die zur Zeit unter Druck stehen, eine Atempause verspricht. Doch der Waffenstillstand hat für Riad auch Nachteile, weil er zur Konsolidation der Positionen Asads in West-Syrien führen könnte, während Asads Entfernung von der Macht das Kriegsziel der Saudis ist.
Die Rebellengruppen ausser dem IS und Nusra-Front haben bis Feitag Zeit, um zu erklären, ob sie den geplanten Waffenstillstand annehmen wollen oder nicht. Man kann erwarten, dass sie zustimmen werden, besonders wenn sie Zusicherungen erlangen, dass die rund 400´000 in umzingelten Ortschaften und Städten hungernden Zivilisten humanitäre Hilfe erhalten sollen. Der Waffenstillstand müsste für sie natürlich auch ein Ende der russischen und der syrischen Luftangriffe bringen. Doch die genaue Festlegung der in den Waffenstillstand einbezogenen Gruppen und ihrer Territorien wird schwierig werden, weil die Kräfte sehr vielfältig und verzettelt sind.
Im Falle von Nusra-Front in der Idlib Provinz wird es besonders schwierig werden, die Nusra-Einheiten und Hoheitsgebiete von jenen der nicht-Nusra-Kämpfer zu unterscheiden, weil Nusra oftmals mit Verbündeten - jedoch nicht direkt zu Nusra gehörigen - Milizen und Milizverbänden, wie dem Dschaisch al-Ahrar und dem Dschaisch al-Islam, zusammenarbeitet und gemeinsam kämpft. Diese schillernden Zugehörigkeiten können den Russen und dem Asad-Regime weitere Möglichkeiten bieten, den realen Anfang des geplanten Waffenstillstands weiter hinauszuschieben.