Die Schriftstellerin Erica Pedretti legt Wert darauf, nicht als «auch Künstlerin» bezeichnet zu werden. Wenn schon, so war sie zuerst Künstlerin und hat später mit Schreiben begonnen. Trotzdem ist es nicht falsch, sich Erica Pedrettis Skulpturen, Zeichnungen und Malereien von ihrem literarischen Schaffen her zu nähern.
Das tut in gewisser Weise auch die Ausstellung im Churer Museum. Ihr Motto «Fremd genug» entleiht sie nämlich dem Titel von Pedrettis jüngstem Buch, einer autobiografischen Erzählung über die Vertreibung aus der tschechisch-mährischen Heimat und die wenig gastfreundliche, von fremdenpolizeilichen Prozeduren geprägte Aufnahme in der Schweiz im Jahr 1945. Heimatverlust und unüberwindbares Fremdbleiben ist das Lebensthema der in diesen Tagen neunzig Jahre alten Künstlerin.
Fremdheit – Lebensthema und Kunstprinzip
In die Schweiz konnte die Fünfzehnjährige mit ihren jüngeren Geschwistern nur einreisen, weil die Einladung einer Verwandten vorlag. Doch die schliesslich zusammengeführte Familie erhielt dennoch nur eine «Aufenthaltsbewilligung zwecks Weiterreise», konnte also in der Schweiz nicht sesshaft werden. Immerhin durchlief Erica an der Zürcher Kunstgewerbeschule die Ausbildung zur Silberschmiedin – eine wichtige Station auf dem Lebensweg, da sie hier nicht nur ihren Brotberuf erlernte, sondern auch den späteren Ehemann traf, den Künstler Gian Pedretti. Dieser war es, der Erica nach deren zweijährigem USA-Aufenthalt in die Schweiz zurückholte. Das Paar lebte von 1952 bis 1974 in Celerina, dann vier Jahrzehnte in La Neuveville am Bielersee und seit 2015 wieder in Celerina im Engadin.
Die Wortschöpfung «Fremd genug» zeigt nicht nur eine komplexe und ambivalente Beziehung zum Fremdsein an. Sie steht auch für Erica Pedrettis künstlerisches Verfahren beim Schreiben wie beim Gestalten. Ihre Texte und Bildwerke machen stets die Inhalte und Objekte fremd. Könnte es nicht sein, so scheint ihre Kunst zu sagen, dass wir die Dinge erst wirklich sehen, wenn sie etwas fremd sind? Wäre es dann nicht die Aufgabe der Künstlerin, sie «fremd genug» zu machen? Und liegt der Sinn solcher Kunst dann vielleicht darin, die Betrachter sich selber «fremd genug» zu machen, das heisst, sie soweit der eigenen Fremdheitserfahrung auszusetzen, dass sie der Wahrheit über sich selber auf die Spur kommen?
Erica Pedrettis Kunstobjekte im Barozzi-Veiga-Neubau des Churer Museums stehen grossenteils nicht auf dem Boden. Es sind Objets suspendus, an eigens in die Säle eingebauten mächtigen Kubenstrukturen und Traversen hängend (Gestaltung: Katalin Deér und Lukas Furrer). Darin schweben teils filigrane, teils raumgreifende Gebilde, lesbar als Wasserwesen und Luftgeister. Dann wieder findet sich Geschlinge von Astwerk, liegend wie stömungsbewegte Wassenpflanzen, stehend wie lodernde Flammen.
Bezug zur ganzen Kunstgeschichte
Manche dieser Objekte muss Fernand Léger im Traum gesehen haben, bevor er seine kubistischen Sinfonien malte. Andere erinnern an Figuren auf Bildern von Joan Miró. Pergamentartige Materialien, teilweise beschriftet, spannen sich über Draht- und Holzkonstruktionen. Alle wollen sie gesehen und gedeutet oder zumindest einem Begriff zugeordnet sein – Vogel, Kobold, Fisch – und sind doch «fremd genug», um rätselhaft und faszinierend zu bleiben.
Ein wiederkehrendes Motiv ist das des Flügels. Als mächtige Schwinge wird es mehrfach gezeigt, schwer hängend mit angedeutetem Skelett wie braune überdimensionale Fledermausflügel die einen, schwerelos und pergamentfarben schwebend die anderen. Flügel sind von Ikarus und der Nike von Samothrake bis zu Niki de Saint Phalles Schutzengel in der Zürcher Bahnhofshalle in der ganzen Kunstgeschichte ein bedeutungsgeladenes Attribut. Sie stehen für überirdische Kräfte, den Sieg (nicht nur über die Schwerkraft) und für Schutz vor Schicksalen.
Flügel schwingen auf und bergen. Indem Erica Pedretti ihre Flügel von jedem Kontext ablöst, lässt sie deren Bedeutung offen, macht sie sie «fremd genug», um ihr vieldeutiges Wesen erkennbar zu machen.
Ganz andere Facetten ihres Schaffens zeigen die neben den rund fünfzig Raumobjekten ausgestellten Zeichnungen, etwa hundert an der Zahl. Statt gerahmt an den Wänden sind sie auf niedrigen Tischen präsentiert.
Man kann in diesen Blättern Dokumente des Nachdenkens mit dem Zeichenstift erkennen. Figuratives und Abstraktes steht nebeneinander und macht deutlich, dass für Erica Pedretti zwischen beidem keine strenge Grenze liegt. Da finden sich Zeichnungen, die diszipliniert und regelhaft mit Formen spielen. Andere sind mit expressiver Geste aufs Blatt geworfen, und bei weiteren ist ein Buchstabieren von Bildideen zu sehen, von denen ein Teil sich in den skulpturalen Objekten wiederfindet.
Den Zeichnungen kommt bei Erica Pedretti – anders als bei den grossen Zeichnerinnen und Zeichnern in Kunstgeschichte und Gegenwart – kein eigenständiger Rang zu. Man kann die gezeigten Blätter mit wenigen Ausnahmen auch nicht als Studien für Erica Pedrettis Kunstproduktion sehen. Was da auf den Tischen ausliegt, das sind vielmehr Spuren einer explorierenden Tätigkeit. Da und dort hat sie sich kondensiert zu klarem künstlerischem Ausdruck; bei zahlreichen Stücken handelt es sich jedoch eher um Markierungen auf dem Weg dorthin. Indem die Künstlerin ihre Zeichnungen öffentlich zugänglich macht, gibt sie gleichsam Einblick ins Tagebuch ihres bildnerischen Schaffensprozesses.
Die Churer richten die Pedretti-Ausstellung in Zusammenarbeit mit dem Neuen Museum Biel aus, welches das Oeuvre im vergangenen Jahr präsentiert hat. Stephan Kunz, künstlerischer Direktor im Bündner Kunstmuseum Chur, zeigt nun dank der ganz anderen Bedingungen im Barozzi-Veiga-Neubau trotz teilweise gleichen Materials eine ganz andere Ausstellung. Sie ist die Reise nach Chur auf jeden Fall wert.
Bündner Kunstmuseum Chur: Erica Pedretti. Fremd genug, bis 7. Juni
Zum Oeuvre Erica Pedrettis ist erschienen: Erica Pedretti. Flügelschlag, mit Werkverzeichnis 1952–2014, Hg. Dolores Denaro, Verlag für moderne Kunst, Wien 2017