Der Bühneneingang des Zürcher Opernhauses ist immer verstellt mit Kulissen, Lieferwagen und Velos und ein paar Raucher gönnen sich noch eine Zigi.
Jetzt steht Emmanuelle Haïm dort. Ohne Zigarette, aber mit Handy. Ein Probentermin muss verschoben werden, der Ort wird ein anderer sein. Und die Journalistin wartet schon. Zeitdruck, Improvisation und Flexibilität gehören genauso zum Dirigentenberuf wie die perfekte Kenntnis der Partitur.
Rameau und Racine
Für Emmanuelle Haïm ist es das erste Mal, dass sie am Zürcher Opernhaus arbeitet, aber ein Zufall ist es natürlich nicht. Emmanuelle Haïm ist Spezialistin auf dem Gebiet der alten Musik, und als Pariserin liebt sie insbesondere die französische Barockmusik. Ihre erste Produktion am Zürcher Opernhaus ist nun «Hippolyte et Aricie», komponiert von Jean Philippe Rameau und angelehnt an «Phèdre» von Jean Racine. Während es bei Racine tragisch endet, löst sich die Geschichte bei Rameau in Musik und Tanz und Wohlgefallen auf.
Das Dirigentenzimmer ist klein, das Sofa bequem und der Kühlschrank aufgefüllt mit Mineralwasser. Aber nicht nur deshalb gefällt es Emmanuelle Haïm in Zürich. «Das Orchester ‘la Scintilla’ ist wunderbar, voller Leidenschaft und total engagiert, unser Ensemble einfach grossartig und ich habe das Gefühl, in einem musikbesessenen Haus zu sein … c’est formidable!»
Eine Oper und mehrere Versionen
«Hippolyte et Aricie» kennt sie gut. «2009 habe ich es in Toulouse dirigiert, 2012 an der Opéra Garnier in Paris und als Musikstudentin habe ich auch schon an einem Projekt über das Stück teilgenommen.» Allerdings, wendet sie dann ein, sei es nie wirklich das gleiche Stück gewesen, denn Rameau habe «Hippolyte» mehrfach überarbeitet, es gibt verschiedene Versionen. «Als Rameau es 1733 geschrieben hat, waren die Rezitative mit dem Basso Continuo viel länger, viel erklärender», sagt Haïm. «Mit jeder Überarbeitung wurde das Werk orchestraler und der Prolog verschwand. Das Stück hat über die Jahre eine Entwicklung durchgemacht.»
Dass sie das Stück schon richtig intus hat, sieht Emmanuelle Haïm als grossen Vorteil an. «Man kennt die Tücken, man dringt immer tiefer in die Musik ein, aber natürlich habe ich auch den Ehrgeiz, jedes Mal etwas Neues daraus zu machen. Das ergibt sich aber schon daraus, dass die Besetzung eine andere ist, dass Sänger dazu kommen, die ihre Rolle zum ersten Mal singen und somit einen ganz neuen Zugang mitbringen.
Und die Regie ist auch immer anders. Das ist doch genau gleich wie mit den grossen Repertoire-Stücken: Bachs Cello-Suiten zum Beispiel. Ich glaube, da kann man sein ganzes Leben lang dran arbeiten, man entdeckt immer etwas Neues, man empfindet immer etwas Neues.»
Haïm ist auch froh, dass sie mit «La Scintilla» ein Orchester hat, das sich im Barock bestens auskennt und seinerzeit noch durch die Schule von Nikolaus Harnoncourt gegangen ist. «Gerade wenn man mit dem französischen Repertoire zu tun hat, ist es wichtig, viel über Barockmusik zu wissen. In der Praxis ist es aber auch das Musik-Instrument, das einen lehrt, was möglich ist und was nicht. Ich erarbeite diese Musik auch mit modernen Orchestern, aber es scheint mir unerlässlich, auch ein paar Musiker im Orchester zu haben, die auf alte Musik spezialisiert sind.»
Frauen, die den Takt angeben
Wenn es inzwischen auch mehr Frauen gibt, die als Dirigentinnen unterwegs sind, so bleibt ihre Zahl vergleichsweise immer noch klein. Und während sich das Publikum langsam daran gewöhnt, eine Frau am Dirigentenpult zu sehen, gibt es unter den Musikern immer noch männliche Kollegen, die ihre liebe Mühe damit haben. Mariss Jansons zum Beispiel, der dies kürzlich öffentlich bekundete, und dafür postwendend einen Shitstorm erntete und sich schleunigst entschuldigte.
Oder ein holländischer Musikwissenschaftler, der davon sprach, dass die klassische Musik an Wert verliere, wenn zu viele Frauen den Takt angeben. Wie reagiert Emmanuelle Haïm auf solche Äusserungen? «Jeder darf seine eigene Meinung haben, aber solche Aussagen treffen mich überhaupt nicht», sagt sie mit grosser Bestimmtheit. «Ich kenne viele hervorragende Männer, die überhaupt nicht so denken. Wenn man Dirigentin werden will, eine innere Berufung hat und auch das Können, dann muss man es machen, voilà!»
Das «muss» betont sie so stark, dass gar kein Zweifel bleibt. Das gelte natürlich auch für andere Berufe, fügt sie noch bei. «Ich habe ja auch nicht mit 15 oder 20 angefangen, sondern ich bin reingerutscht, nachdem ich jahrelang mit grosser Leidenschaft Orgel und Cembalo gespielt habe.»
Grosse Vorbilder
Als Assistentin von William Christie und Simon Rattle hat sie grossen Vorbildern auf die Finger schauen können, bevor sie selbst zu dirigieren begann. Inzwischen leitet sie auch grosse Orchester wie die New Yorker, Berliner oder Wiener Philharmoniker und fühlt sich wohl dabei. Am allermeisten, wenn sie Barockes aufführen kann. «Ach, es gibt so viele Unterschiede in der Barockmusik», sagt sie. «Ein ‘Serse’ von Francesco Cavalli oder ‘Bellerophon’ von Lully, ‘Hippolyte’ von Rameau oder ‘Alcina’ von Händel, das hat doch überhaupt nichts mit einer ‘Matthäuspassion’ von Bach zu tun. Die stecken nicht in der gleichen Schublade. Absolut nicht!»
Berührende Einfachheit
Woran liegt es aber, dass gerade Barockmusik das Publikum oft so stark berührt? «Nehmen sie einen Komponisten wie Händel. Ein Genie, was Theater und Musik angeht! Er berührt uns bis in die hintersten Winkel der Seele dank seiner Einfachheit. Ich habe gerade in Paris im Théâtre des Champs Elysées die Zürcher Produktion von ‘Alcina’ mit Cecilia Bartoli geleitet, und wenn man da das ‘Ah, mio cor’ hört, ist man zutiefst berührt. Es gibt Leute, die halten diese Musik für hochgestochen oder elitär, da sage ich: non, non, non …! Man kann auf ganz einfache Weise berührt werden: durch ein paar Worte, eine Stimme und eine Laute. Wie im alten Griechenland.»
Emmanuelle Haïm kommt total ins Schwärmen. «In Monteverdis ‘Orfeo’ gibt es dieses ‘tu sei morta’.» Hingebungsvoll singt sie die drei Worte, lässt es nachklingen, und singt es noch einmal: «’tu sei morta …’. Da ist fast nichts. Drei Noten nur, diese simplicité, diese Einfachheit ist so frappant und so berührend … und diese Technik hat schliesslich den Weg bereitet zur Oper, mit Monteverdi.»
Man spürt, Emmanuelle Haïm ist total in ihrem Element: die rote Lockenmähne verwuschelt immer mehr, die Augen strahlen, die Hände unterstreichen die Worte, es ist eine Freude, zuzuhören und ihre Begeisterung springt über. Dass mit der Regisseurin Jetske Mijnssen noch eine zweite Frau im Leitungsteam ist und die grossartige Stéphanie d’Oustrac als Phèdre auf der Bühne steht, freut Emmanuelle Haïm besonders.
Wird es eine klassische Aufführung oder modern interpretiert, frage ich noch. «Wichtig ist doch vor allem, dass sie uns als Menschen von heute anspricht und aufzeigt, was diese Geschichte uns heute noch zu sagen hat», so Haïm. «Vieles, was auf die griechische Antike zurückgeht, sind tragische Geschichten, die zeitlos sind. Es ist eine düstere, dunkle Musik. Und es gibt sehr schöne Kostüme.», verrät sie. Dann schnappt sie ihre Handtasche und saust zur nächsten Probe.
Opernhaus Zürich, «Hippolyte et Aricie»
von Jean-Philippe Rameau
Premiere: 19. Mai 2019