Wenn es denn wahr und nicht nur uns eingeredet ist, dass die Lyrik still und kleinpflanzig im Schatten des Literaturbetriebes blüht, dann haben die Lyriktage mit dem Städtchen Frauenfeld im unaufgeregten Thurgau zum zwölften Mal den richtigen Ort gefunden. In der idealen Idylle haben sie sich dieses Jahr gar noch gegen das betriebsame Eisenwerk und für die peripherere Theaterwerkstatt Gleis 5 entschieden. Der als Rückzug deutbare Umzug wurde zum raffinierten Schachzug. Das schlichte Umfeld verstärkte der Lyrik am Eröffnungsabend das strahlende Gastspiel. Sie trat, ganz und gar nicht still, aus dem Schatten ins helle Licht und packte.
Überraschend spannend und vergnüglich
Die von der Kulturstiftung des Kantons Thurgau organisierten Lyriktage wurden als Glücksfall von Nora Gomringer kuratiert. Selber Lyrikerin und Leiterin des Internationalen Künstlerhauses Villa Concordia in Bamberg, bot sie einen "Jazzabend mit fünf Solostimmen", der das Wort um den Klang bereicherte und erfahren liess, wie überraschend spannend und vergnüglich das Elitäre sein kann. Dann, wenn es aufs Unverwechselbare aus ist und nicht aufs Abgehobene, aufs Gewitzigte und nicht aufs Gedrechselte, aufs Gekonnte und nicht aufs Bemühte.
Der Hinweis, Nora Gomringer sei eine weibliche Person, wäre als sofort erkennbare Tatsache nur eine blödsinnige Information, müsste daran nicht ein die political correctness kurz missachtendes Lob geknüpft werden. Was sich ein Kurator niemals erlaubt hätte, konnte sich die Kuratorin tadellos - so hoffen wir doch - leisten, nämlich ausschliesslich Lyriker einzuladen. Ohne jede demonstrative Absicht in der einen oder anderen Richtung, sondern einzig mit dem Ziel eines stilistisch homogenen Programms. Wo sich ein Kurator um Kopf und Kragen zu rechtfertigen hätte, konnte Nora Gomringer souverän locker bleiben. Und überzeugend geschlossen und dicht war der Abend auch.
Dreidimensionale Lyrik
Nacheinander traten auf, jeder verschieden und alle sich ergänzend: Raphael Urweider, Lyriker, Theaterautor, Musiker und Regisseur;
Michael Stauffer, der Prosa schreibt, Hörspiele und Theaterstücke und Lyrik singt und improvisiert;
der Sprachkünstler und Medizinhistoriker Vincent Barras, der in seiner französischen Muttersprache vortrug;
Michael Lentz, deutscher Schriftsteller, Lautpoet und Literaturwissenschafter;
Christian Uetz, der philosophische Poet.
Es wurde nicht vorgelesen, sondern vorgetragen. Zu hören und sehen waren Ein-Mann-Stücke mit lyrischen, an den sprechenden Autor gebundenen Texten. Das Wort benötigte den Klang, dieser das Wort. Das Ganze war mehr als die Summe der Einzelteile.
Sprechende Körper verwandelten Worte in Sprachkörper. Mit den Augen und Ohren erlebte das Publikum dreidimensionale Lyrik. Sie löste Staunen aus, Lachen und Beifall.
Rasch verhallende Resonanz
Die Entdeckung der Frauenfelder Lyriktage ist insofern keine leichte Sache, als die nächste Auflage erst wieder im September 2015 stattfindet. Der Zweijahres-Rhythmus erschwert die Etablierung der Veranstaltung. Die Resonanz verhallt. Das ist enorm schade.
Offenbar wissen der Thurgau und Frauenfeld nicht, was sie an den Lyriktagen haben, und behandeln sie spitzfingrig und kaltschultrig wie die Lyrik auch. Das Umdenken wäre geboten. Einem Kanton und einer Stadt, die sich als so schön empfinden wie ein Gedicht, müsste die generöse Förderung Ehrensache sein.
(Alle Fotos: Regula Bänninger)