Nur wenig liess zu Beginn von Katharine Viners journalistischer Karriere erahnen, dass sie dereinst, im zarten Alter von 44 Jahren, Chefredaktorin des Londoner «Guardian» werden würde – als erste Frau an der Spitze des Blattes und als Nachfolgerin des hoch angesehenen Alan Rusbridger, der die Zeitung zwei Jahrzehnte lang geführt und ihr mit mutiger Berichterstattung zu Weltruhm verholfen hatte. Vor Viner hatten den «Guardian» in seiner 194-jährigen Geschichte lediglich elf Chefredaktoren geleitet.
Nach dem Besuch der Rippon Grammar School in Yorkshire und dem Studium der englischen Literatur am Pembroke College in Oxford stieg die Tochter einer Lehrerin und eines Lehrers 1992 bei der damals äussert populären Frauenzeitschrift «Cosmopolitan» in den Journalismus ein. Ihren ersten Artikel schrieb sie unter dem ironischen und unübersetzbaren Titel «Storm in a D-Cup» zum Thema Körbchengrösse von Büstenhaltern.
Von «Cosmo» wechselte Viner zur «Sunday Times», die inzwischen Rupert Murdoch gehörte und seit dem Abgang des legendären Chefredaktors Harold Evans viel von ihrem früheren Renommee eingebüsst hatte. Nach drei Jahren bei der «Times» begann Katharine Viner 1997 schliesslich in verschiedenen Ressorts für den «Guardian» zu arbeiten.
Guardian-Mitarbeitende prüften Top-Bewerber
All diese Angaben (minus die Information über ihren ersten Artikel) lassen sich einer nüchternen Biografie entnehmen, die Viner im Februar aus Anlass einer internen Wahlveranstaltung in London zusammengestellt hat. Die sogenannten «Hustings» gaben 964 Mitarbeitenden des «Guardian» und des sonntäglichen «Observer» weltweit Gelegenheit, vier aus ursprünglich 26 Bewerbern verbliebene Kandidatinnen und Kandidaten für den Chefposten auf Herz und Nieren zu prüfen. Katharine Viner schnitt sehr gut ab und erhielt 53 Prozent der Stimmen.
Im März entschied sich der Scott Trust, Besitzer des «Guardian» und des «Observer», zwischen einer Kandidatin und einem Kandidaten für die 44-Jährige, die zuvor nach 16 Monaten in Australien zur Chefin des erfolgreichen Online-Portals des «Guardian» in den Vereinigten Staaten aufgestiegen war. Ihr Gegenspieler war Ian Katz, ein früherer stellvertretender Chefredaktor des Blattes und Leiter der jeweils um 22.30 Uhr ausgestrahlten Fernsehsendung «Newsnight» der BBC.
Globale Nachrichtenorganisation
«Der Chefredaktionsposten des Guardian, einst eine britische Zeitung mit einem Kern treuer Stammleser, beinhaltet heute, eine globale Nachrichtenorganisation zu führen, die je nach Massgabe online zu dem am meisten gelesenen und auf Facebook am häufigsten empfohlenen Quellen gehört», schrieb die «New York Times» in ihrem Bericht über Viners Ernennung: «Laut comScore hat der Guardian in den USA den sechsgrössten Online-Auftritt einer traditionellen Zeitung.»
Liz Forgan, die Vorsitzende des Scott Trust, hat Katharine Viner als eine «inspirierende und mutige Chefin» beschrieben, die sich vor den Veränderungen in der Medienbranche nicht fürchtet. «Die gedruckte Zeitung darf den Übergang zum Digitalen nicht behindern, aber wir müssen sie wertschätzen, solange wir entscheiden, an ihr festzuhalten», sagte die neue Chefredaktorin nach ihrer Wahl. Sie wolle einer Medienorganisation vorstehen, die «mutig, fordernd, transparent und engagiert» sei. Der «Guardian» hat heute noch eine Druckauflage von rund 175‘000 Exemplaren, während die Zahl der Zugriffe auf seine diversen Online-Portale im Steigen begriffen ist.
Weiter links als Vorgänger Rusbridger
Privat ist über Katharine Viner nur wenig bekannt. Ihr Lebenslauf für die «hustings» listet schlicht die Stationen ihrer eindrücklichen Karriere auf. Der «Financial Times» zufolge gilt sie als zugänglicher und politisch linker als ihr professoraler Vorgänger Alan Rusbridger, der jüngst in seinem Buch «Play It Again» detailliert geschildert hat, wie er als Pianist 2010 eine knifflige Chopin-Ballade spielen lernte.
Mit Sicherheit aber hat Viner Sinn für Humor. Der zeigt sich in einem 2004 im «Guardian» erschienenen Beitrag mit dem Titel «Dear diary…», in welchem sie sich anhand von Tagebuchnotizen erinnert, wie sie als 16-jähriger Teenager gewesen war – eine Zeit, in der sie sich ausser für Pop, Kleider und Kosmetik auch für das Weltgeschehen (Nordirland, Sudan, Südafrika, Bangladesch, Pakistan) zu interessieren begann.
Ausführlicher, wenn auch nicht persönlicher als ihre Biografie ist die programmatische Erklärung, die Katharine Viner bei der internen Wahlveranstaltung im Februar vor ihren Kolleginnen und Kollegen abgegeben hat. Ihr «Wahlprogramm» umfasste 13 Punkte: von Punkt 1 («Berichte, berichte, berichte») über Punkt 7 («Schaue gut aus und mache Sinn») oder Punkt 8 («Schätzen und lieben wir den Druck, aber lassen wir uns nicht von ihm zurückhalten») bis hin zu Punkt 13 (»Alles ist wichtig»).
Neues zu vermelden hält Viner unter Punkt 1 für die wichtigste Aufgabe ihrer Zeitung: «Wir bauen auf eine Tradition der Genauigkeit und der Fairness; wir liefern den Lesern jene Informationen, die sie brauchen, um die Welt zu verstehen; wir erinnern die Mächtigen an ihre Verantwortung; wir verteidigen die Bürgerfreiheiten und decken Ungerechtigkeiten auf. Wir müssen im Online neue Wege finden, um Geschichten zu finden, zu überprüfen, zu erzählen und zu verteilen, damit sie für unsere Leser relevant sind, und wir müssen unsere Quellen und unsere Reporter schützen.»
Gegen Paywall
In einem Vortrag in Melbourne hat sich die Chefredaktorin des «Guardian» vor zwei Jahren gegen Bezahlschranken ausgesprochen. Zwar sei, argumentierte sie, seriöser und aufwändiger Journalismus teuer und müssten Journalisten für ihre Arbeit anständig bezahlt werden. Paywalls aber würden der Idee eines offenen Netzes widersprechen und wären lediglich gedruckter Journalismus in anderer Form.
Was von öffentlichem Interesse sei, forderte Viner, dürfe nicht hinter Bezahlschranken platziert werden: «Wie aber kann Journalismus künftig abgesichert hinter einer Paywall funktionieren, während die Zukunft des Journalismus ganz klar ausserhalb von Bezahlschranken liegt?» Für entsprechend wichtig hält sie denn auch den respektvollen Kontakt zu Leserinnen und Lesern, etwa in Form sorgfältig moderierter Leserkommentare.
47jährige Ökonomin führt den «Economist»
Weniger Wellen in den Medien als Katharine Viners Beförderung hat im Januar die Ernennung von Ms. Zanny Minton Beddoes zur Chefredaktorin des 171-jährigen «Economist» geworfen. Wie es sich gehört für eine «Zeitung» (niemand spricht intern von «Magazin»), deren Artikel nach wie vor anonym erscheinen und einen gemeinsamen Effort symbolisieren sollen. Minton Beddoes ist der 17. «Editor» des wöchentlich erscheinenden «Economist» und wie Viner die erste Frau in dieser Position. Sie hatte sich als Einzige neben zwölf männlichen Konkurrenten für den Posten beworben.
Mit 47 Jahren tritt die neue Chefin ihr Amt relativ spät an. Die meisten ihrer Vorgänger waren jünger, als sie ihr Büro im 13. Stock des «Economist»-Hauptquartiers an der St. James‘s Street in London bezogen. Bereits 1965 hatte Geoffrey Crowther, damals Verwaltungsratspräsident des Unternehmens, seine Kollegen wissen lassen, «dass wir in dieser rasch sich verändernden Welt einen jungen Mann (als Chefredaktor) brauchen und dass wir deshalb niemanden in Betracht ziehen, der älter als etwa 40 ist.» Alastair Burnet, der seinerzeit Gekürte, war 37 Jahre alt.
Zanny Minton Beddoes hat in Oxford und Harvard Ökonomie studiert. Während zwei Jahren arbeitete sie neben dem ob seiner wirtschaftlichen Schocktherapien umstrittenen Ökonomen Jeffrey Sachs für den Internationalen Währungsfonds (IMF), bevor sie 1994 zum «Economist» stiess. Von 1996 bis 2014 war sie als Korrespondentin in Washington DC stationiert. Mit einer weltweiten Auflage von 1,6 Millionen Exemplaren erfreut sich ihre Zeitung heute robuster Gesundheit, obwohl die Einnahmen, die noch immer zu 90 Prozent aus der Druckausgabe stammen, im letzten Jahr zum ersten Mal seit fülnfzehn Jahren gesunken sind.
Wirtschaftsliberales Kollektiv
Dafür hat der «Economist» mit rund hundert Mitarbeitenden, unter ihnen fast ein Viertel Frauen, eine kleinere und billigere Redaktion als vergleichbare Titel. Die Redaktion funktioniert im Übrigen einem früheren Chefredaktor zufolge wie «ein Kollektiv, fast wie das Kardinalskollegium». Ein Kollektiv, das mit all seinen brillanten Köpfen und hervorragenden Experten anspruchsvoll zu führen ist. Auf jeden Fall sind die wöchentlichen Redaktionskonferenzen, die jeweils am Montagmorgen im Chefbüro mit Blick auf Hyde Park und Buckingham Palace über die Bühne gehen, legendär.
Zanny Minton Beddoes gilt als Wirtschaftsliberale, die für freiere und flexiblere Märkte sowie gegen mehr Einmischung von Staatsseite eintritt. Gleichzeitig warnt sie vor den Gefahren einer wachsenden Ungleichheit als Folge von Globalisierung und technischem Fortschritt, eine Entwicklung, dies sie nicht zuletzt in den USA ortet: «Mehr Steuereinnahmen sind wohl unumgänglich.» Der «Economist» selbst hat im vergangenen Jahr umgerechnet 84 Millionen Franken verdient – keine schlechte Voraussetzung für seine neue Chefin.
Quellen: «The Guardian»; «Indicative Ballot»; «The New York Times»; «The Economist»; «The Financial Times»; «Quartz»